Siamo italiani
Alexander J. Seiler, Rob Gnant, June Kovach, Schweiz, 1964o
Mit einer halben Million Saisonniers waren die Italiener in den sechziger Jahren die weitaus grösste Ausländergruppe in der Schweiz. Sie kämpften mit bürokratischen Hürden, um den Familiennachzug, anständige Wohnungen und gegen das Misstrauen der Schweizer Bevölkerung. Siamo italiani war, auch international, einer der ersten Dokumentarfilme zu diesem Thema – und auch insofern wegweisend, als er sowohl den Italienern als auch den Einheimischen vorurteilsfrei das Wort gab.
Der Film dokumentiert nicht nur eindrücklich die oft prekären Lebensverhältnisse, sondern interessiert sich für die individuellen Schicksale. Ohne die Möglichkeit eines analysierenden Kommentars, dafür mittels geschickter Montage ergibt sich in diesem Zeitdokument ein facettenreiches Bild der Lebensrealität von Migrant_innen. (Auszug)
Tereza FischerGalerieo
Der grosse Schweizer Filmemacher und Intellektuelle Alexander J. Seiler ist mit 90 Jahren gestorben.
Bilder und Augenblicke, und womöglich fügen sie sich ganz organisch ins Ganze.
Jener Moment beispielsweise, als Alexander Seiler vor einem Gespräch fragte, wie man es halten wolle, ob der Besucher lieber Dialekt oder Hochdeutsch rede (das war, nachdem man sich vorher auf Mundart ein wenig abgetastet hatte und sich nun gut genug kannte, um offiziell miteinander zu werden; der Kaffee im altertümlichen Espressokocher war in der Zeit verdampft). Ihm, offen gesagt, wäre das Hochdeutsch lieber, wenns um ein Interview gehe, das sei aber nicht hoffärtig gemeint, er wolle es nicht Ludwig Hohl nachmachen, diesem hochfahrenden Eremiten der Schweizer Literatur, der auch privat kein Wort Dialekt redete. Er drücke sich einfach präziser aus, glaube er, und eigentlich wechsle man ja nur von einer Muttersprache in die andere.
Jene Lebensszene auch, die er einem schmunzelnd beschrieb: Wie damals 1943 die Schüler des Kantonalen Gymnasiums Zürich, unter ihnen der 15-jährige Alexander, in militärischer Formation die Rämistrasse hinunter ins Kino Urban geführt wurden zur geistigen Aufrüstung durch Leopold Lindtbergs «Landammann Stauffacher».
Gegen das Kunststoffdeutsch
Es muss ein Bild für alteidgenössische Götter gewesen sein, und man denkt jetzt, ja, das könnte schon zusammenpassen, der Stauffacher und die Hochsprache, und sie hätten in ihrer Widersprüchlichkeit etwas zu tun mit dem Filmemacher und Intellektuellen, der Seiler war: Der «Landammann Stauffacher», dieser Film aus dem Geist des vaterländischen Heimatschutzes – historisch notwendig zu seiner rechten Zeit, gefrorener Schweizer Mythos später –, womöglich als negative Inspiration. Als ein Film, wie ihn Alexander Seiler nie hat machen wollen und nie gemacht hätte.
Die Reflexion über die Sprache andererseits, nicht weil ihm etwa der Dialekt zuwider war, sondern weil er dem ihm innewohnenden Hang zur idyllischen Isolation misstraute. Es hat nämlich der Filmemacher, Intellektuelle, Journalist und Autor Alexander J. Seiler, geboren 1928 in Zürich, heimatberechtigt im Wallis, zwischen der deutschsprachigen und der Deutschschweizer Kultur nie so viel Unterschied gemacht, dass er glaubte, als ein Sprachprovinzler das Eigene schützen zu müssen. Gut, einmal, 1985 in einer Rede, gequält vom «Kunststoffdeutsch» synchronisierter amerikanischer Fernsehserien, hat er zur nützlichen Xenophobie geraten, die auch mundartlich kreativ werden sollte. Aber das Fremdenfeindliche, recht verstanden, betraf denn auch die damalige Saumode, Postkarten in synthetischem Dialekt zu verfassen.
An ein Klischee von «Herzenssprache» hat Seiler, der sich immer fragte, wie Eigenes und Fremdes voneinander zehrten im Guten und Bösen, nicht geglaubt. Die Sprache, die er liebte (eine belesene, musikalische, bürgerlich gebildete Liebe, man merkt das in jedem seiner Texte, im Rhythmus seiner Bilder und Filmkommentare), war nicht Sache des Herzens, sondern eine Herzenssache des Kopfes. Genau und ohne Berührungsängste, und damit das deutlich wurde, redete er gern wie gedruckt.
Er ist Filmemacher geworden im Hauptberuf, es hätte auch anders kommen können. Seine Herkunft aus dem aussterbenden Stand des Bildungsbürgertums, das hablich war und die Kultur pflegte («das Schöne und vielleicht auch viel Gutes und Wahres», wie Alexander Seiler einmal sagte), gab ihm Wahlmöglichkeiten. Ein Studium natürlich wurde erwartet, aber die Mutter, Ärztin, und der Vater, Anwalt, forderten vom Sohn nicht, dass er sich in ihnen spiegle. Er mit seiner Leidenschaft fürs Theater, fürs Schreiben, für den Film auch, ging in Richtung Literatur und Philosophie, ging nach Basel, Paris und München, unterbrach die Studien, um Kulturjournalismus zu machen, nahm sie wieder auf, um bei den Theaterwissenschaftlern in Wien über die Dramatik des Jean Giraudoux zu dissertieren.
Tat also das eine und musste das andere nicht lassen, der angehende Doktor Alexander Seiler, weil auf die bildungsbürgerliche Grosszügigkeit Verlass war, so lang wie nötig. In seiner linken Gesinnung war dann immer Raum für diese dankbare Erinnerung.
Mit dem Film kam es so: Die Cinephilie hatte sich früh entwickelt, und zur Praxis verhalf ihr in den frühen 60ern der «Walliserfilz» (Seiler) in der Schweizerischen Verkehrszentrale. Denn seit urgrossväterlicher Zeit hatte der Name Seiler Klang in der Walliser Hotellerie: Der Chef der auch filmisch aktiven Zentrale war ein Freund des Vaters und riskierte es mit dem Autodidakten. Das hat sich schnell und kurios rentiert. Bereits Seilers zweiter praktischer Versuch, ein Film über das Wasser («In wechselndem Gefälle»), gewann 1963 eine Goldene Palme im Kurzfilm-Wettbewerb von Cannes. Damals hatte auch die Zusammenarbeit mit Rob Gnant, dem Freund und kreativen Partner, schon begonnen, und da war man nun: Man war Filmemacher, dachte über die Verkehrszentrale hinaus an einen neuen Schweizer Film und wollte dem alten mit seinen idyllisch müffelnden Geranien dokumentarisch an den Kragen.
Gleich der erste «wirkliche» Dokumentarfilm, «Siamo italiani» (1964), die rebellische Gemeinschaftsarbeit von Seiler, Gnant (Kamera) und June Kovach (Ton und Schnitt), drang ästhetisch ambitioniert und skrupulös wahrhaftig ins Humane, in die Wirklichkeit der Fremdarbeiter, in die panische Fremdenfeindlichkeit der Zeit. Und er war ein Dokument, dieser Film, und ist es geblieben; und er wurde Monument und stand dem, was danach kam, sogar ein wenig im Licht, zu Alexander Seilers gelindem Leidwesen.
Schlimm wars aber nicht. Es ist in 50 Jahren doch viel Bemerkenswertes und Bemerktes dazugekommen: «Die Früchte der Arbeit» (1977), der Dokumentarfilm über die Arbeit als Ware, den Seiler für seinen allerwichtigsten hielt. Der spartanische Film mit Ludwig Hohl (1982), dem Freund, der ihn in seine Einsamkeit hineinliess. Oder «Palaver, Palaver» (1990), ein Versuch über den militärisch organisierten Patriotismus. Zuletzt, 2010, wars «Geysir und Goliath», ein postumes «Selbstporträt» des Bildhauers Karl Geiser (1898–1957). Der Film eines Strengen über einen Strengen, der gegen die Kompromissler wütete und gegen sich, wenn er Kompromisse einging.
Was bleibt uns?
Oh ja, streng konnte Alexander Seiler sein und streng ins Gericht gehen, es erzürnte ihn die Beliebigkeit, und nie hätte er auf die Frage «Warum?» («Warum muss man über den schreiben?» etwa) ein «Warum nicht?» als Antwort einfach so akzeptiert. Er mahnte Substanz an, und im Alter war ein Gran Bitternis in seinen Mahnungen. Nicht immer war es ihm gegeben, sich vor Gott und den Menschen und der Filmbranche angenehm zu machen, wie es in Lessings Ringparabel heisst, die er natürlich kannte.
Allerdings: Er war auch grosszügig beim Loben. Und oft hat er gesagt, dass er immer das Bedürfnis nach einer «Bruder-» oder besser «Geschwistergemeinde» gehabt habe. Brüderlichkeit, dieses wunderbare Wort aus bürgerlicher Tradition, hiess bei ihm auch: verbindliche Solidarität ein Filmerleben lang. Als aktiver Filmpolitiker, als Sekretär des Verbands schweizerischer Filmgestalter, als Gründungsmitglied des Filmzentrums, als Anwalt des sittlichen Ernstes in Angelegenheiten der Qualität und als glänzender Debatter, wenn es sich ums branchensoziale Problem handelte, dass man von Ehre und Ruhm noch nicht gegessen hat (nur Seilers wegen ist der Ehrenpreis im Rahmen des Schweizer Filmpreises jetzt dotiert mit 30’000 Franken).
Wie die Produktionsfirma Dschoint Ventschr meldete, ist Alexander J. Seiler am vergangenen Donnerstag 90-jährig gestorben. Und was bleibt uns? Vielleicht ein letzter Gruss im Stil des Niklaus Meienberg, des schwierigen Freundes, dem Seiler oft beigesprungen ist in seinen Zwisten. Das war auch so einer, der die bürgerlichen Begriffe schätzte, in denen es nach Carmagnole und jakobinischer Revolte klang; und der hätte, lebte er noch, jetzt vielleicht zum Abschied geschrieben: Salut et Fraternité.