Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern
Stina Werenfels, Schweiz, Deutschland, 2015o
Dora ist 18 und voller Entdeckungsfreude. Ihre beruhigenden Medikamente hat ihre Mutter vor kurzem abgesetzt. Ungebremst stürzt sich die geistig behinderte junge Frau nun ins Leben und findet Gefallen an einem Mann. Bald haben die beiden Sex - zum Erschrecken von Doras Eltern. Dora trifft sich ohne deren Wissen weiterhin mit dem zwielichtigen Mann und wird prompt schwanger.
Stina Werenfels’ Version von Lukas Bärfuss’ Theaterstück «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» hat eine schwierige Produktionsgeschichte, aber man merkt sie dem Film nicht an. Der Zürcher Regisseurin gelingt ein visuell kraftvolles Drama über die Austreibung einer sich entgrenzenden Sexualität und die Grauzonen zwischen missbrauchter Lust und lustvoller Entdeckerfreude. Es ist eine Studie der vielen Perversionen, in denen sich die bürgerliche Sexualität in dunkle Lust verkehrt und der Wunsch nach Befreiung in die Selbstoptimierung zwischen Psychologie und Humangenetik mündet. Und vor allem fragt der Film, was Mutterliebe unter verschärften Bedingungen bedeutet. Auch das Ensemble ist sehr gut!
Pascal BlumNicht lange freut man sich über Dora und ihre neu erwachte Sexualität, wird sie doch begleitet von sexueller Ausbeutung, ungewollten Schwangerschaften und Arztgespächen über HIV. Und trotzdem kommt der Film bunt und fröhlich und mit unpassender Leichtigkeit daher. Seine Bilder stehen im krassen Gegensatz zum Unwohlsein des Zuschauers, das sie auslösen. Was zunächst noch unnatürlich scheint, macht schnell Sinn, denn die heiteren Bilder spiegeln Doras Perspektive ihrer eigenen Geschichte wieder. Auch wenn sie körperlich reif genug ist, um Sex zu genießen wie jede andere Frau auch, ist sie im Kopf leider nicht so weit und versteht nichts von dem absolut schmerzhaft anzusehenden Schicksal, das ihr widerfährt. Toll erzählt, hervorragend gespielt, sehr emotional und trotzdem irgendwie befremdlich schön.
N.N.Die Schweizerin Stina Werenfels tut so, als sei ihre Verfilmung des Theaterstücks von Lukas Bärfuss ein mutiges Plädoyer für das Recht auf Sex und Selbstbestimmung behinderter Menschen. Tatsächlich missbraucht sie die Figur der geistig behinderten Dora (Victoria Schulz) - eine 18jährige auf dem geistig-seelischen Entwicklungsstand einer 10jährigen - für gespreiztes Provokationstheater und Tabubrecher-Posen.
Rainer GanseraEine geistig beeinträchtigte junge Frau muss mit ihrem 18. Geburtstag keine regulierenden Medikamente mehr einnehmen und erwacht aus einer Art Dämmerzustand, was nicht nur die Emanzipation aus ihrem behütenden Elternhaus nach sich zieht, sondern zuvorderst wilden Sex, Schwangerschaft und Abtreibung bedeutet. Der nach einem Theaterstück inszenierte Film feiert wohltuend unverkrampft die heitere Lebenslust seiner Protagonistin, die exemplarisch für das Recht auf Sexualität und Selbstbestimmung auch geistig behinderter Menschen steht. Der ungeheuerlich heftige, aber auch ungeheuer mutige Film schlägt bisweilen unverhofft humorvolle Töne an und konfrontiert mit den fließenden Grenzen der Wahrnehmung sowie mit dem Fließen moralischer Grenzen.
N.N.