Die zweite Heimat: Chronik einer Jugend
Edgar Reitz, Robert Busch, Deutschland, 1992, 1 Staffelo
Im zweiten Teil von Edgar Reitz' deutscher Jahrhundert-Serie erleben der angehende Musiker Hermann und seine Freund:innen die sechziger Jahre in der Studenten- und Künstlerszene von München. In jeder der 13 Folgen steht eine andere Figur im Zentrum: hoffnungsvolle Kulturschaffende, politisch bewegte oder ewige Studenten und Töchter, vor allem aber ihre Beziehungen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Phasen des Glücks. Abermals aufersteht eine ganze Generation.
Hermann Simon (Henry Arnold), das «Hermännchen» aus Edgar Reitz’ bahnbrechender Serie Heimat von 1984, verlässt in der Nachfolge-Serie, die mit dem Jahr 1960 neu ansetzt und deshalb auch ohne Kenntnis der ursprünglichen problemlos verständlich ist, sein Hunsrücker-Heimatdorf. Er will in München Musik studieren und dort seine «zweite Heimat» finden, eine selbstbestimmte Identität, die nicht mehr durch seine familiäre Herkunft definiert ist. So ergeht es den meisten seiner neuen Freund:innen, Musikerinnen, Filmern, Studentinnen und Lebenskünstlern, die aus der Provinz in die Grossstadt ziehen und sich im «Fuchsbau» treffen, der Schwabinger Villa einer sympathisch verschrobenen Dame. Die 13 Folgen umspannen die Jahre bis 1970, in jeder Folge steht eine neue Figur und ein neuer Zeitabschnitt im Mittelpunkt, die Cellistin Clarissa zum Beispiel, in die sich Hermann unglücklich verliebt, Alex, der ewige Student oder Helga, die Lyrik schreibt und Ende der Sechziger in den Terrorismus abgleitet. Natürlich gibt es Geschichten über die Liebe, Ehen und Freundschaften, die sich auflösen oder vertiefen, zudem Episoden über politische Ereignisse wie die Schwabinger Krawalle, den Tod Kennedys und die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen der Väter. Mehr als für den politischen Aufbruch jener Jahre interessiert sich Reitz allerdings für den künstlerischen, der sich in verspielten Geschichten über die Entstehung des Neuen Deutschen Films und in authentischen über die Szene um die avantgardistische neue Musik spiegelt – wobei die Schauspieler:innen ihre Instrumente sogar beherrschen. Vor allem aber zeigt der Filmroman, was aus all den Wünschen, Utopien und Hoffnungen seiner Protagonisten im Verlauf des Jahrzehnts wird. Es ist auch eine Geschichte von Vereinzelung, Desillusionierung und Enttäuschungen. Und von unverhofftem Glück.
Kathrin Halter