Terrestrial Verses
Ali Asgari, Alireza Khatami, Iran, 2023o
Wenn Lichter und Irrlichter über der geschäftigen Stadt Teheran in der Morgendämmerung zu leuchten beginnen, ist das der Auftakt für neuen Irrsinn, der sich in Form absurder Regeln ins Leben der Menschen drängt. In neun Episoden erzählt «Terrestrial Verses» von so profanen wie unfassbaren Begegnungen mit einer allgegenwärtigen Bürokratie. Da möchte Vater Staat nicht nur ein Wörtchen mitreden bei der Namenswahl für Neugeborene. Nein, auch in Modefragen und für politisch motivierte Hundeentführungen sehen sich Beamte als die Besten aller möglichen Berater…
Terrestrial Verses ist eine Röntgenaufnahme der zeitgenössischen iranischen Gesellschaft mit den Mittlen der Fiktion und zeigt neun Situationen, deren scheinbare Banalität das Klima der Unterdrückung offenbart. In starren, frontal gefilmten Szenen stehen Einzelpersonen einem Gesprächspartner gegenüber, der aus dem Bild verbannt ist und dadurch zur gespenstischen Verkörperung einer gesichtslosen Macht wird. So scheitert etwa der Vater eines Neugeborenen an der Unnachgiebigkeit eines Beamten, der sich weigert, den von den Eltern des Kindes gewählten Vornamen David eintragen zu lassen. Eine Taxifahrerin wird von einer Polizistin auf Grund eines unscharfen Radarfotos beschuldigt, mit offenem Haar gefahren zu sein; bei einem Vorstellungsgespräch wird ein Arbeitsloser aufgefordert, einige Verse aus dem Koran zu rezitieren und seine Kenntnis der rituellen Waschung unter Beweis zu stellen. Jede dieser Interaktionen durchläuft eine ähnliche Entwicklung, alle kippen vom Absurden in den Schrecken. Jedes der neun Bilder erzählt, wie die Würde eines Menschen durch ein freiheitsfeindliches Regime schrittweise aufgehoben wird. Der Stil ist dabei demonstrativ nüchtern, aber die Subtilität der Dialoge und die Intelligenz der Inszenierung bewirken, dass man gefesselt zusieht.
Émilien Gür