Living
Oliver Hermanus, GB, Japan, Schweden, 2022o
London 1953: Der Abteilungsleiter Mr. Williams ist mit seinem Trupp bei der Baubhörde zwischen Pendenzenbergen ergraut. Als ihm der Arzt bescheidet, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat, fällt er aus dem Trott und reist an einen Badeort, um wenigstens einmal über die Stränge zu schlagen. Doch weder da noch auf Streifzügen durchs geschäftige London an der Seite einer jungen Ex-Kollegin, findet er Erfüllung. Da kehrt eines der versandeten Baugesuche auf seinen Tisch zurück.
Der in Japan geborene, aber grossteils in England aufgewachsene Literatur-Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat bislang nie fürs Kino gearbeitet. Dabei zeigen die Verfilmungen seiner Romane The Remains of the Day und Never Let Me Go, wie filmisch der cinephile Autor schreibt: leise Dramen um verstockte Figuren, die das Leben zu verpassen drohen, das Wichtigste steht zwischen den Zeilen. Kein Wunder deshalb, dass der Kurosawa-Klassiker Ikiru von 1952 Ishiguro im Rentenalter doch noch zum Drehbuchschreiben veranlasst hat: Es geht um einen Chefbeamten einer Baubebehörde, in der sich die Gesuche meterhoch türmen, was unseren Mann kurz vor der Pensionierung nicht schert, bis eine Krebsdiagnose seinen Lebenshorizont auf wenige Monate verkürzt. Jetzt fällt der stocksteife Witwer aus dem Takt, macht ohne Entschuldigung blau, will wenigstens einmal noch auf die Pauke hauen, doch auch das geht schief. Mühsam lernt er in Begegnungen mit einer jungen Kollegin, dass leben ohne Feuer für andere oder eine grössere Sache nicht leben heisst. Ishiguro und der südafrikanische Regisseur Oliver Hermanus verlegen den Plot von Japan nach London, was durchaus passt: da wie dort die Wiederaufbauzeit nach dem Krieg, das Räderwerk und die menschlichen Rädchen der Bürokratie, da wie dort eisige Höflichkeit, eiserne Manieren, stummes Verschlucken aller Gefühle und endlich ein Aufbegehren im Kleinen, das Grosses bedeutet. Beide Filme sind gut geschrieben, glänzend besetzt und mit Feingefühl inszeniert. Allerdings: Ikiru spricht aus seiner Zeit über die Gegenwart, Living über etwas, von dem sich spätere Zeiten weitgehend verabschiedet haben. Die damalige Dringlichkeit wandelt sich zur Reminiszenz.
Andreas Furler