Anatomie d’une chute
Justine Triet, Frankreich, 2023o
Samuel wird tot im Schnee am Fusse der abgelegenen Hütte aufgefunden, in der er mit seiner Frau Sandra, einer deutschen Schriftstellerin, und ihrem 11-jährigen sehbehinderten Sohn Daniel gelebt hat. Eine Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass es sich um einen "verdächtigen Tod" handelt: Es lässt sich nicht feststellen, ob Samuel Selbstmord begangen hat oder ermordet wurde. Sandra wird angeklagt, der Prozess gerät zur regelrechten Sezierung des Paares. Daniel ist hin- und hergerissen: Zwischen Mutter und Sohn öffnet sich der Abgrund des Zweifels.
War es ein Unfall oder hat die Angeklagte ihren Mann in ihrem Haus in den französischen Alpen aus dem Fenster gestossen? Klar ist, dass die Spannungen in der Ehe gross waren. Zudem scheint ein zufälliger Sturz unwahrscheinlich, und der einzige sonst noch Anwesende, der beinahe blinde junge Sohn des Paars, hat nur wenig gehört. Der Cannes-Gewinner dieses Jahres hat die Bildsprache eines soliden Fernsehfilms, ist ansonsten aber ein packendes, grandios gespieltes juristisches und menschliches Drama. Sandra Hüller, die vielfach prämierte Hauptdarstellerin von Toni Erdmann (2016), ist einmal mehr nicht gut, sondern fabelhaft. Bei aller Empathie stellt sich keine Gewissheit über die Schuld oder Unschuld ihrer Figur ein, und auch der Sohn zweifelt. Umso klarer wird, dass die Komplexität einer langjährigen Beziehung nicht in eine Beweisführung von Ursache und Wirkung überführt werden kann, jede Rekonstruktion von Geschehnissen vor Gericht aber die Entwicklung einer Erzählung erfordert – und bei einer solchen ist die Fiktion nie weit weg. Der Film prangert das gar nicht an. Er zeigt vielmehr, dass es keinen anderen Weg gibt.
Till BrockmannGalerieo







