Houria
Mounia Meddour, Algerien, Frankreich, 2023o
Die junge Tänzerin Houria trainiert Tag und Nacht, um ins algerische Nationalballett aufgenommen zu werden. Ein brutaler physischer Angriff wirft sie komplett aus der Bahn und raubt ihr buchstäblich die Sprache. In einer Therapiegruppe für traumatisierte Frauen findet sie langsam wieder zu sich – und zu einer anderen Körpersprache. Doch die algerische Realität holt sie und ihre neuen Gefährtinnen immer wieder ein.
2019 legte die algerisch-französische Regisseurin Mounia Meddour mit Papicha ihren starken Debütfilm über die Zeit des schwelenden Bürgerkriegs und des islamistischen Terrors im Algerien der 1990er Jahre vor. Der Plot: Wie sich eine junge Modemacherin mit ihren Freundinnen und eisernem Willen gegen die frauenfeindlichen Fanantiker wehrt. Im Zentrum: Das Engelsgesicht der damals 27jährigen, aber wie 17 wirkenden Neuentdeckung Lyna Khoudri, die ihr Heimatland – genau wie ihre Regisseurin – früh verlassen musste, weil die Familie bedroht wurde und das zerrissene Land jungen Künstlerinnen keine Perspektive bot. Vier Jahre später ist Khoudri in ihrer französischen Wahlheimat zum césargekrönten Jungstar herangewachsen, der mit seiner Schönheit und vibrierenden Intensität internationalen Prestigeproduktionen wie The French Dispatch und französischen A-Filmen wie Gagarine, Novembre oder der Musketier-Neuverfilmung D'Artagnan zu Glamour verhilft. Als Titelheldin von Houria glüht die versierte Tänzerin mehr denn je und dominiert die Leinwand von der ersten bis zur letzten Minute. Khoudri spielt eine angehende Prima Ballerina in Algier, die durch die Attacke eines rabiaten Kleinkriminellen aus der Bahn geworfen wird. In einem Refugium für traumatisierte Frauen findet die schwer Verletzte und jäh Verstummte einen sicheren Hafen und unversehens ihre ureigene Körpersprache. Wie in Papicha inszeniert Meddour die weibliche Solidarität in wunderbar leichten, quicklebendigen, bisweilen überschwänglichen Szenen, anders als dort gerät der soziale Kontext durch die Konzentration auf die Titelheldin eine Weile aus dem Blick. Doch Meddour weiss, was sie tut: Immer mehr Realitätssplitter durchdringen Hourias Traumwelt und machen das algerische Trauma wieder gegenwärtig. Tanzend legt die Heldin schliesslich einen neuen Schutzmantel um die feminine Gemeinschaft. Klingt kitschig? Brennt sich dank Khoudris hochkonzentrierter Performance aber tief ins emotionale Gedächtnis.
Andreas FurlerM. Meddour narre les blessures de l’Algérie à travers le corps dansant de Lyna Khoudri, dont l'interprétation silencieuse est l’une des plus touchantes à ce jour.
Michael Ghennam