The Whale
Darren Aronofsky, USA, 2022o
Der Englischlehrer Charlie führt seit dem Tod seines Liebhabers, für den er einst Frau und Tochter verlassen hat, ein zurückgezogenes Leben, in dessen Verlauf er mehr als 200 Kilo angefuttert hat. Um den Kokon der Trauer endlich zu verlassen und sich mit seiner Famiie auszusöhnen, sucht er wieder den Kontakt zu seiner siebzehnjährigen Tochter Ellie.
Das Kino ist eine seltsame Sache. Man schaut sich problemlos – was sagen wir: vollkommen gefesselt – einen Film über einen unfasslich dicken Mann mittleren Alters an, der einzig von der Schwester seines verstorbenen Liebhabers, von einem jungen Missionar und von seiner blindwütigen Tochter im Teenageralter Besuch bekommt – und im übrigen wild entschlossen scheint, sich zu Tode zu fressen. Und man ist mit dieser Faszination nicht allein. Brendan Fraser hat für die Verkörperung dieses menschlichen Wals im März 2023 den Oscar als bester Hauptdarsteller bekommen, mehr als 100'000 Userinnen haben dem Film auf der berühmten Zehnerskala von IMDb mit 8 bis 10 benotet. Die Lösung dieses Rätsel lautet Darren Aronofsky. Der New Yorker Harvard-Absolvent und Schöpfer filmischer Psychotrips wie Requiem for a Dream und Black Swan schafft es mit diesem Kammerspiel abermals, uns zwei Stunden an den Stuhl zu fesseln, ohne auch nur den einen Schauplatz, die höhlenartige Wohnung des Protagonisten, zu verlassen. Wie er das macht? Eigentlich einfach: mit einer Geschichte, die immer im Fluss bleibt, weil die Vorgeschichte nur langsam ans Licht kommt. Wir erfahren nach und nach, wie der schwule Ehemann Familienvater wurde, was er für seine spätere Liebe opferte und wen er damit verletzt hat. Wie die grossen Theaterautoren zeichnet Aronofsky seinen Antihelden nicht einfach als dumpfen Koloss, sondern als vitale Figur voller Widersprüche; wie sie portioniert er die Enthüllungen clever und treibt sie frei von falschen Hemmungen ihrem dramatischen Höhepunkt entgegen. Einzelnen dürfte dies, vor allem am schier metaphysischen Ende, zu weit gehen. Mir ging es eher wie Franz Kafka laut Tagebucheintrag am 20. November 1913: "Im Kino gewesen. Geweint."
Andreas Furler