L'avventura
Michelangelo Antonioni, Italien, Frankreich, 1960o
Anna, ihr Geliebter Sandro und ihre Freundin Claudia machen eine Bootsfahrt zu einer Vulkaninsel. Als Anna verschwindet, wird eine Suchaktion eingeleitet, nach der sich Sandro und Claudia auf eine Affäre einlassen, die von Spannungen und Schuldgefühlen geprägt ist.
Das Italien nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Jahrzehnte des Faschismus verändert sich schnell, das Gesicht der Städte noch schneller, als Baudelaire es seinerzeit vorausgesagt hatte („Die Form einer Stadt ändert sich leider schneller, als das Herz eines Sterblichen.“), man stürzt sich in den Konsumismus, um die Schrecken der Vergangenheit zu vergessen, und man würde diesen neuen Hedonismus fast geniessen, wenn nicht alles auf einmal sinnlos erscheinen würde. Michelangelo Antonioni ist der Filmemacher, der die Zeit in dieser neuen, hektischen und gefühlsarmen Welt verlangsamt. Im Jahr 1968 lieferte er eines der schönsten Standbilder, einen Zoom bis zum Ende des Sichtbaren. Im Jahr 1960 gelang es ihm zum ersten Mal, die Zeit einzufrieren - im Verschwinden, im Warten, in der Langeweile. Dieses Wagnis heisst L'avventura. Eine junge bürgerliche Blondine unternimmt mit einer dunkelhaarigen Freundin und deren Verlobtem eine Kreuzfahrt. Während eines Zwischenstopps auf einer Insel verschwindet die zweite Frau. Auf der Suche nach ihr beginnen der Freund und die Vertraute der Vermissten eine Affäre - eine Art, die Zeit zu verbringen, die sich endlos zwischen Tageswanderungen in verlassenen Städten und mondänen Abenden in Luxushotels erstreckt. Antonioni macht den Männern keine Geschenke mit der Figur eines Architekten, der, kaum ist seine Verlobte verschwunden ist, vor allem herausfinden will, ob er Blondinen oder Brünette bevorzugt. Dafür schenkt er dem Kino eine unvergessliche Schauspielerin. Mit ihrem luftigen blonden Haar und ihrem markanten Profil durchdringt Monica Vitti jede Einstellung mit ihrer untypischen Schönheit, sie ist im Bild präsent und zugleich abwesend, Objekt des Blicks und doch schwer fassbar. Jede Minute und jede Sekunde, in der Monica Vitti gefilmt wird, zählt. Dreissig Jahre später wird sie von den Leinwänden verschwinden, zweiundsechzig Jahre später endgültig gehen. Heute vermissen wir sie. Und weil die Welt seither nicht viel anders geworden ist, fehlt auch Antonionis Kino.
Émilien Gür