Stürm: Bis wir tot sind oder frei

Oliver Rihs, Schweiz, Deutschland, 2020o

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In ihrem Kampf gegen das rückständige Schweizer Rechtssystem der 80er-Jahre findet die idealistische Anwältin Barbara Hug einen unerwarteten Verbündeten: den national bekannten Ausbrecherkönig Walter Stürm. Hug möchte Stürms Popularität für ihr Ziel nutzen, den Schweizer Strafvollzug zu reformieren. Doch je weniger Stürm sich ihrer Logik beugt, desto mehr verfällt sie der Faszination seines kategorischen Freiheitswillens.


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SRF, 24.11.2021
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Tages-Anzeiger, 24.11.2011
Walter Stürm war kein Che Guevara

«Stürm» verfilmt das Leben des Ausbrecherkönigs und zeigt, wie ihn Aktivisten feierten – es gibt sogar Parallelen zum Fall Brian. Eine Betrachtung.

Von Stefan Hohler

Dass es über zwanzig Jahre dauerte, bis die Geschichte des Ausbrecherkönigs Walter Stürm verfilmt wurde, überrascht. Sein abenteuerliches Leben bietet zwei Dinge, die ein spannender Film braucht: Sex and Crime. Stürm hatte in den Achtzigern und Neunzigern reihenweise Tresore in Banken und Geschäften geknackt, wofür er in der linken Szene als Robin Hood galt. Er wurde zwar immer wieder verhaftet, doch es gelang ihm achtmal die Flucht aus dem Gefängnis.

Der Kinofilm von Regisseur Oliver Rhis («Achtung, fertig, WK!»), mit Joel Basman («Wolkenbruch») in der Titelrolle, ist eine Abrechnung mit den 80er-Jahre-Politaktivisten, die den Mann feierten, und zeigt auf, was er zeit seines Lebens in Wirklichkeit war: ein Berufskrimineller, der sein Umfeld manipulierte und nur am Geld interessiert war.

Am besten fasst es die Punkerin Heike (Jella Haase, «Fack ju Göhte») zusammen, mit der Stürm im Film eine kurze Affäre hat: «Nimmt man Stürm die Rebellenfassade weg, ist er ein kleines egoistisches Würstchen.» Die junge Deutsche hat ihn schon nach kurzer Zeit durchschaut, im Gegensatz zu seiner Schweizer Anwältin Barbara Hug (eine hervorragende Marie Leuenberger, «Göttliche Ordnung»), die bis zum Schluss an den Mythos Stürm glaubt.

Der Film basiert auf Reto Kohlers 300-seitiger Stürm-Biografie aus dem Jahr 2004. Der Autor hatte sich mit Stürm und seinen Delikten während Jahren auseinandergesetzt und im Buch deutlich beschrieben, dass dieser kein Held war, sondern ein Egozentriker. Stürm hatte in seiner über 30-jährigen Karriere Hunderte von Einbrüchen getätigt. Kultstatus und Höhepunkt seiner Popularität erreichte der St. Galler Industriellensohn spätestens dann, als er 1981 bei seiner Flucht aus der Strafanstalt Regensdorf vier Tage vor Karfreitag einen Zettel mit den Worten «Bin beim Ostereiersuchen» hinterliess.

Rihs hat in der Zürcher Kreis-4-Anwältin Barbara Hug ein Gegenstück zu Stürm gefunden; im Film ist sie die zweite Hauptfigur. Sie ist eine idealistische und betont linke Juristin, deren Vorbild die deutschen Anwälte sind, welche die Baader-Meinhof-Gruppe verteidigen. Hug kämpft gegen das veraltete Schweizer Justizsystem und meint, mit dem Ausbrecher den Schlüssel dazu gefunden zu haben: «Stürm ist unser Che!», sagt sie euphorisch zu ihren skeptischen Kanzleikollegen, derweil im Fernsehen die Meldung kommt, dass Stürm im Zürcher Luxushotel Baur au Lac verhaftet worden sei.

Während in der Realität Stürm und Hug ein nüchternes Verhältnis hatten und er nur selten über persönliche Dinge sprach, verliebt sich «Babs» im Film in den Lebemann, der eine charmante Seite hat, aber plötzlich sehr vulgär auftreten kann. «Nimm doch ein Behindertentaxi!», schreit Stürm die Anwältin einmal an, die wegen einer schweren Nierenerkrankung in ihrer Kindheit an einer Krücke geht, und wirft sie mitten auf der Strasse aus dem Auto. Stürm hat genug von ihrem «Freiheitsfimmel» und schimpft sie einen «huere Moralapostel». Für Stürm, den Autonarren, war wahre Freiheit «Motorengeräusche und einen Safe knacken».

Der Film beginnt 1980 während der Zürcher Unruhen, mit demonstrierenden Jugendlichen und prügelnden Polizisten. Er widerspiegelt die Zeit, in der es Stürm gelang, einen Teil der damaligen «Bewegig» für seine Hungerstreiks gegen die strengen Haftbedingungen zu instrumentalisieren und sich als Revolutionär feiern zu lassen. Es kam zu Demonstrationen vor dem Gefängnis Regensdorf, und das Komitee gegen die Isolationshaft hielt Transparente hoch mit Inschriften wie «Isohaft ist Folterhaft» und «Freiheit für Stürm».

Dabei gibt es Parallelen zu heute im Fall Brian alias Carlos. Hier setzen sich nicht Linksrevolutionäre für den jungen Gewalttäter ein, sondern Kunstschaffende. Aber auch sie machen den Täter zum Opfer. Und ein interessantes Detail fällt auf: Bernard Rambert, Stürms erster Anwalt und Vorgänger von Barbara Hug, verteidigt jetzt Brian und bezeichnet – ähnlich wie schon seinerzeit bei Walter Stürm – dessen Haftbedingungen als Folter und menschenrechtswidrig. Der Anwalt hatte sein Mandat für Stürm aufgegeben, als der bei dessen Tante in der Romandie ein heimliches Waffenlager anlegte und Rambert damit dreieinhalb Wochen in Untersuchungshaft brachte.

Im Oktober 1998 verlässt Stürm das Gefängnis als freier Mann. Im Film besucht er seine Anwältin zu Hause. «Was ist Freiheit?», fragt sie ihn und Stürm antwortet diesmal: «Das, was dich glücklich macht.» Voller Wut schreit sie ihn an: «Und für diesen Klugschiss hast du vierzehn Jahre in der Kiste zugebracht!» Stürm, der mit ihrem idealistischen Freiheitsbegriff nie etwas anfangen konnte, verlässt wortlos ihre Wohnung. Damit ist die Beziehung für Hug beendet.

Richtig frei von Stürm wird sie aber erst mit seinem Tod – zumindest im Film. Es sind eindrückliche Bilder, als die kranke Barbara Hug endlich einer Operation für eine neue Niere zustimmt, der Anästhesist ihr die Narkosemaske über die Nase hält und sie friedlich einschläft, derweil sich Stürm im Gefängnis gleichzeitig einen Plastiksack über das Gesicht stülpt und erstickt.

Denn unverbesserlich, wie er war, hatte Stürm vier Monate nach seiner Haftentlassung mit zwei Komplizen einen bewaffneten Banküberfall im Kanton Thurgau verübt und dabei den Filialleiter und dessen Frau als Geiseln genommen. Stürm wurde eine Woche später verhaftet und nahm sich im September 1999 in der Zelle das Leben. Er war 57 Jahre alt geworden. Seine Verteidigerin Barbara Hug starb sechs Jahre später im Alter von 59 Jahren nach einem längeren Spitalaufenthalt.

Der Film ist spannend, unterhaltsam, mit schnellen Schnitten und witzigen Dialogen. Rihs hat sich an Reto Kohlers Biografie gehalten, wollte aber keine Filmbiografie schreiben. Es sei eher eine atemberaubende philosophische Lovestory in einem ungewöhnlichen Umfeld, sagt Rihs in einem WOZ-Interview und bringt es damit auf den Punkt.

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persoenlich.com, 22.11.2021
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Die Wochenzeitung, 03.11.2021
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cine-feuilles.ch, 29.05.2022
© Alle Rechte vorbehalten cine-feuilles.ch. Zur Verfügung gestellt von cine-feuilles.ch Archiv
Beitrag zum Tod von Walter Stürm
/ SRF
de / 12.09.1999 / 01‘43‘‘

Interview mit Joel Basman und Oliver Rihs
/ SRF
de / 23.11.2021 / 19‘28‘‘

Hintergrundbeitrag zum Film
/ SRF
de / 23.11.2021 / 04‘32‘‘

Filmdateno

Synchrontitel
Stürm: La Liberté ou la mort FR
Genre
Krimi/Thriller, Drama
Länge
118 Min.
Originalsprachen
Schweizerdeutsch, Deutsch
Bewertungen
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ØIhre Bewertung6.1/10
IMDB-User:
5.9 (285)
Cinefile-User:
< 10 Stimmen
KritikerInnen:
6.8 (5) q

Cast & Crewo

Joel BasmanWalter Stürm
Marie LeuenbergerBarbara Hug
Jella HaaseHeike Vollmer
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Bonuso

iGefilmt
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SRF, de , 19‘28‘‘
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gGeschrieben
Besprechung SRF
Selim Petersen
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Besprechung Tages-Anzeiger
Stefan Hohler
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Interview mit Autor Reto Kohler
persoenlich.com / Matthias Ackeret
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Die Wochenzeitung / Florian Keller
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Philippe Thonney
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