Nachbeben
Stina Werenfels, Schweiz, 2006o
Der Zürcher Investment-Banker HP hat den Börsen-Crash vermeintlich gut überstanden. An einem Grillabend mit seinen Finanzweltfreunden, droht das dänische Au-Pair Mädchen von HP, ihr Verhältnis mit dessen Chef auffliegen zu lassen. HP versucht es allen recht zu machen, laviert und redet sich um Kopf und Kragen, bis alles für ihn auf dem Spiel steht: Haus, Frau, Freunde und sein Job.
Ähnlich wie Claude Gorettas L’Invitation (1973) – der andere grosse Gartenparty-Film der Schweizer Filmgeschichte – führt Nachbeben in die Welt des schönen bürgerlichen Scheins, um die darin verstecke Heuchelei, Torheit, Grausamkeit und Verzweiflung auf genüssliche Art zu entlarven. Werenfels verführt uns mit ihren tief gezeichneten Figuren und schillernden, bunten Oberflächen, bis der Schluss uns wie eine Ohrfeige erwischt. (Auszug)
Marcy GoldbergGalerieo
Mit «Nachbeben» zeichnet Stina Werenfels ein eindringliches Sittenbild der Goldküste.
Das Leben ist ein Deal. Zumindest für HP. Mit riskanten Börsengeschäften hat sich der Investmentbanker ein privates Imperium aufgebaut. Man besitzt eine Villa an der Zürcher Goldküste, hat eine präsentable Gattin und verkehrt unter seinesgleichen. Jedenfalls war das lange Zeit so. An diesem Sommerabend aber ist alles ein bisschen anders: An einer Grillparty versucht der Hausherr «unsern Arsch zu retten», wie er seiner Frau zu vorgerückter Stunde im Badezimmer gesteht. Doch da ist es schon zu spät. Auf dem Rasen lauern der Chef und ein Nachfolger, die das Spiel des hoch verschuldeten Kollegen längst durchschaut haben. Jetzt kommt es nur noch drauf an, wessen Bluff zuerst hops geht. Denn etwas zu verbergen haben an diesem Abend unter Freunden alle.
Stina Werenfels erzählt in «Nachbeben» eine Geschichte aus den privilegierten Zürcher Bankerkreisen. Und sie tut es im Stil eines psychologischen Dramas, das mit seinem unerbittlichen Blick für gesellschaftliche Ränkespiele an Thomas Vinterbergs Familiendrama «Festen» erinnert. Noch bevor die Party losgeht, gibt der Gastgeber (Michael Neuenschwander) seinem Sohn Max (Mikki Levy), einem etwas dicklichen Jugendlichen, das Lebensmotto mit auf den Weg: «Muesch immer luege, dass nöd du der Idiot bisch, sondern än andere.» Dann fahren Philip (Georg Scharegg) und seine hoch schwangere Frau Sue (Bettina Stucky) im Landrover vor. Zögerlich kommt die Konversation in Gang. Man tauscht Höflichkeiten aus, schützt Interesse vor - und hält sich selber bedeckt. Als nach fünfzehn Minuten der Jungmanager Gutzler (Leonardo Nigro) auf den Plan tritt, kommt die Gesprächsdynamik in Gang. In der erotisch aufgeladenen Stimmung beginnt es zu knistern. Während die arrivierten Herren sich mit spitzen Bemerkungen ihren sozialen Status sichern, flattiert der Junggeselle der Damenwelt. Das Spiel um Sein und Schein kennt nur einen Zweck: den andern die Maske niederzureissen, während man die eigene Fassade wahrt.
Atmosphärische Dichte
Zahlreiche Vorbilder klingen in «Nachbeben» an. Man denkt an Tschechows melancholische Abgesänge auf das untergehende Grossbürgertum, an Ibsens Tragödien über die Lebenslüge. Auf filmischer Seite sind es die Dramen von Cassavetes, Ang Lees «The Ice Storm» - oder eben «Festen». Mit dem ersten Dogmafilm hat Werenfels' Kammerspiel die atmosphärische Dichte gemeinsam, die sich aus der körpernah agierenden Handkamera ergibt. Anders als die dänische Produktion, die mit ihrem minimalistischen Stil auf schmuddelig machte, kommt das Goldküstendrama jedoch gestylt daher.
Flashartig leuchtet die Kamera (Piotr Jaxa) jeden Winkel des Grundstücks aus, auf dem sich gerade ein entscheidender Smalltalk ereignet. Mal sitzen die Frauen zusammen auf der Gartenbank und rivalisieren, wer die bessere Mutter sei. Mal flanieren die Männer über den Rasen und versuchen sich dabei auszustechen, wer die besseren Informationen zum Nano-Deal mit Lettland habe. Mit immer neuen Figurenkonstellationen treibt die Regisseurin die Handlung einer Eskalation zu. Wenn in der letzten Einstellung die Kamera aus der Vogelperspektive auf das Anwesen mit Seeanstoss blickt, ist für alle Beteiligten nichts mehr so wie zuvor.
Werenfels, die zuletzt die erfrischende Fernsehkomödie «Meier Marilyn» drehte, erweist sich auch in ihrem ersten Langspielfilm als Regisseurin, die intensive Stimmungen zu schaffen versteht. Was sie aus ihren Darstellern - allesamt Bühnenschauspieler - herausholt, ist beeindruckend. Während Michael Neuenschwander einen sozialen Aufsteiger gibt, der dank synthetischen Stimmungsaufhellern selbst am Abend seines finanziellen Ruins locker flockig daherredet, spielt Susanne-Marie Wrage eine Ehefrau, die im goldenen Käfig übermässig dem Alkohol zuspricht. Und während Georg Scharegg ein Würstchen verkörpert, das seine Frau mit dem Aupair von HP betrügt, sitzt Bettina Stucky als wissende Gattin im Schatten und schaut dem Treiben souverän zu. Nur Leonardo Nigro als Koks schniefender Eindringling ist nicht mit privaten Gefühlen involviert; im Tonfall eines wohlwollenden Kriminalbeamten tätschelt er ab und an die geschundenen Seelen.
«Nachbeben» überzeugt vor allem als Sittengemälde einer Gesellschaftsschicht, die es dank der New Economy zu beträchtlichem Reichtum brachte, sich ihren sozialen Aufstieg aber auch mit dem Verlust tragfähiger Beziehungen erkauft. In einer der berührendsten Szenen tanzt die Dame des Hauses, mit einem Whiskyglas in der Hand, alleine vor der Lautsprecherbox im Wohnzimmer. Einsamkeit, Leere, unerfüllte Sehnsucht: Alles ist ihr in Gesicht und Körperhaltung geschrieben. In diesem Moment erschliesst sich auch die Arbeitsweise der Zürcher Regisseurin besonders deutlich: Ein Jahr vor Drehbeginn zog sich Werenfels mit den Hauptdarstellern zurück. Aus dem intensiven Probe- und Improvisationsprozess wurden dann die Dialoge destilliert (Drehbuch: Petra Lüschow); die Rollen sind den Schauspielern nun auf den Leib geschrieben.
Aussenperspektive per Video
Etwas weniger überzeugend als die Nahsicht auf das Geschehen ist die Aussenperspektive. Das betrifft weniger das dänische Aupair Birthe (Olivia Frolich), das sich sporadisch ins Geschehen einklinkt, als vielmehr Max. Der lethargische Sohn verbunkert sich während der Party in seinem Zimmer und beobachtet das Geschehen mit einer Videokamera. Der Film nimmt seine medial gebrochene Sicht auf die Wirklichkeit auf. Close-ups und Totalen wechseln sich in der Inszenierung in gutem Rhythmus ab. Am verbalen Showdown auf dem Rasen ist der Voyeur dann aber nicht beteiligt. Zwar manifestiert sich in seinem Abseitsstehen die Tragödie eines nicht vorzeigewürdigen Kindes erst recht. Aus dramaturgischer Sicht wird hier aber eine Chance vergeben. Der Einsatz des Videos wirkt so etwas aufgesetzt.