Die letzte Chance
Leopold Lindtberg, Schweiz, 1945o
Norditalien 1943. Einem amerikanischen und einem britischen Kriegsgefangenen gelingt die Flucht aus einem Zug. Auf dem Weg zur rettenden Schweizer Grenze kommt ihnen ein italienischer Dorfpfarrer zu Hilfe, der ihnen seinerseits eine Gruppe multinationaler Flüchtlinge anvertraut. Die Soldaten lotsen die heterogene Gruppe über die Berge, doch stellen die näherrückenden Verfolger ihre Solidarität auf eine letzte Probe.
Ein packendes Flüchlingsdrama und eine der stärksten Regiearbeiten Leopold Lindtbergs. Allerdings – wie könnte es 1945 anders sein? – auch eine massive Beschönigung der Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. Die letzte Chance wurde noch unter Kriegsbedingungen begonnen, die Produktion war ein einziges Ringen mit den Militärbehörden und der politischen Zensur. Das Resultat ist ein Film voller lebensechter Figuren, die von einer Traumbesetzung mit einer Fülle humorvoller und tragischer Nuancen ausgestattet werden. Auf der zwischenmenschlichen Ebene bündelt sich dieses Ensemble kleiner und grosser Dramen zu einem berührenden Appell an die Solidarität unter erschwerten Bedingungen und zur offenen Frage nach den Grenzen der Opferbereitschaft. Doch eben: So humanitär wie im Film war die Schweiz nicht, auf ein künstlerisch ebenbürtiges Spielfilmkorrektiv, Das Boot ist voll, musste man 35 Jahre warten.
Andreas FurlerMit Die letzte Chance hat Lindtberg eine filmische Allegorie geschaffen, die von der Suche nach Heimat erzählt. Die großartige letzte Einstellung dieses humanistischen Manifestes zeigt, wie die kleine Gruppe von Flüchtlingen am Dorffriedhof vorbeizieht. «Millionen werden in Europa diesen Weg noch gehen», prophezeit ein Beobachter. Die Fragen, die Die letzte Chance aufwirft, der auf dem Festival von Cannes mit dem Grand Prix ausgezeichnet und ein weltweiter Erfolg wurde, bleiben aktuell. (Auszug)
Antoine DuplanGalerieo
Die Praesens-Film war die wichtigste Produktionsfirma der Schweizer Filmgeschichte. Ihre Bedeutung wird nun in Zürich veranschaulicht.
"Hinduismus", "Chinesische Religion", "Buddhismus" steht als Titel über den drei Schautafeln im 1. Stock des Zürcher Stadthauses. Eine Ausstellung über Weltreligionen lockt junge Sinnsuchende, mittelalterliche Interessierte und ältere Experten an. Das Gästebuch ist nach elf Tagen schon ziemlich angeschwollen. An diesen drei Tafeln vorbei führt der Weg ins 2. Stockwerk, wo - etwas weniger global zusammenfassend, dafür um einiges konkreter - den Spuren der schweizerischen Sinnstiftung in den vergangenen siebzig Jahren nachgegangen wird. Leider sind hier, zumindest am Dienstagnachmittag, nur wenige Zuschauer zu Gange. Dafür sind sie weisshaarig und ausnehmend freundlich.
Dabei ist das Schaffen der Zürcher Filmfirma Praesens kein Thema, das nur ältere Menschen interessieren sollte. Wenn im Stadthaus eine erhellende Ausstellung mit vielerlei Exponaten läuft (darunter Briefe, Dokumente und Fotos, Drehpläne und -bücher, Poster und mehrere Monitorsäulen mit Filmausschnitten) und wenn das Filmpodium im November 19 Praesens-Filme zeigt, so ist dies keine vergangenheitsselige Veteranenveranstaltung. Vielmehr wird hier den Bildern nachgespürt, die das Schweizer Filmschaffen in jenen Jahren, als es die orientierungssuchenden Zuschauermassen erreichte, in den Köpfen verankert hat.
Geistige Landesverteidigung
Man kann sagen, dass es ohne die Praesens aus den drei Jahrzehnten von 1930 bis 1960 gar kein kontinuierliches, einigermassen elaboriertes Rückgrat an helvetischer Bilderproduktion gegeben hätte. Was unsere Eltern und Grosseltern und wir selbst an Filmbildern über das Leben in der Schweiz im Kopf haben, stammt zu einem grossen Teil aus Produktionen dieser Firma. Von den Dialektkomödien zu den Keller-, Meyer-, Glauser- und Gotthelf-Verfilmungen; von den Mobilisierungsfilmen "Gilberte de Courgenay", "Füsilier Wipf" und "Landammann Stauffacher" - welche im Dienst der Geistigen Landesverteidigung die Rückbesinnung auf ein nationales Kulturgut betrieben - bis hin zu den Flüchtlingsepen "Die letzte Chance", "Marie-Louise" und "The Search / Die Gezeichneten": alles Praesens-Stoff. Ebenso die zwei weltweit erfolgreichen "Heidi"-Adaptionen.
Natürlich ist die Konstruktion von Wertvorstellungen, die die kollektive Identität prägen, eine komplexe Angelegenheit, und ideologische Bilder sind ja stets aus verschiedenen Perspektiven interpretier- und instrumentalisierbar. Aber ohne Frage hat die Kultur der Geistigen Landesverteidigung, die nirgends so massenkompatibel war wie in den Praesens-Filmen, das Selbstbild der Schweizer bis tief in die Neunzigerjahre geprägt. Und einige arbeiten bereits an der Renaissance. Etwas spitz gesagt: Wenn der Herr Mörgeli dem Herrn Blocher eine Rede schreibt, so haben beide beim Stichwort "Schweizer Identität" Versatzstücke im Kopf, die sich aus den massgeblichen Praesens-Filmen zusammensetzen. Auch wenn die Menschen, die diese Filme gemacht hatten, diese Identität wohl ziemlich anders verstanden haben.
Der Gründer - ein Immigrant
Das Drama der Praesens ist nämlich, dass sie an zentraler Stelle von ausländischen Immigranten gestaltet wurde. Gegründet wurde die Firma vom 1896 in Russisch-Polen geborenen Juden Lazar Wechsler, der 1914 mit seiner Mutter in die Schweiz emigrierte und 1923 das Schweizer Bürgerrecht erwarb. Er versammelte ein verschworenes Team um sich, darunter den kürzlich verstorbenen Kameramann Emil Berna, den Drehbuchautor Richard Schweizer, den Komponisten Robert Blum, der in der Ausstellung leider unterschlagen wird, und andere. Einige der Schweizer Mitwirkenden waren wegen der nationalkonservativen Wende aus Deutschland in ihre Heimat zurückgekehrt. Wichtigster Regisseur wurde der Emigrant Leopold Lindtberg, der bei der Praesens und am Zürcher Schauspielhaus - dem herausragenden Zufluchtsort für verfolgte Theaterleute aus Deutschland und Österreich - eine neue künstlerische Heimat fand.
Es ist beschämend, wie die Schweizer Fremdenpolizei, wie massgebliche Militär- und Verwaltungsstellen mit diesen teils jüdischen, teils politisch verfolgten Emigranten, sogar mit Produzent Wechsler selbst umgesprungen sind. Die Ausstellung liefert hier zahlreiche Belege. Die Cutterin Käthe Mey etwa hatte sämtliche Praesens-Filme bis 1942 geschnitten, inklusive der patriotischen Werke "Füsilier Wipf" und "Landammann Stauffacher", als ihr plötzlich verboten wurde, diesen Job weiter auszuüben, weil sie Ausländerin war. Und Leopold Lindtberg - kein Schweizer hat ähnlich viele und zentrale Schweizer Filme realisiert wie der gebürtige Wiener - wurde bei den Dreharbeiten zu "Füsilier Wipf" vor den beteiligten Militärchargen versteckt, weil man sich genierte, "einen jüdisch-ausländischen, also Emigranten-Regisseur hinter der Kamera zu zeigen", wie Lindtberg sich später erinnerte.
Und kaum war der Krieg vorbei, die Praesens feierte in den USA gewaltige Erfolge mit den von Lindtberg inszenierten Filmen "Marie-Louise" und "Die letzte Chance", musste der Regisseur in der Schweiz um seine Aufenthaltsbewilligung kämpfen und durfte "ohne ausdrückliche Bewilligung der eidgenössischen Fremdenpolizei" keine Filmprojekte mehr in Angriff nehmen.
Ohne Sex und Stars
Das war die Zeit, als Lazar Wechsler in den USA gefeiert wurde. Eine Zeitung aus Philadelphia zum Beispiel überschrieb ihr Porträt mit den starken Worten: "This European movie maker ignores sex and the established stars. But his shoestring productions win prizes and make millions: He breaks Hollywood's rules." Wechslers Traum, auch längerfristig im amerikanischen Filmmarkt Fuss zu fassen, erwies sich dann jedoch als Illusion. Anschaulich zeugen im Stadthaus die zwei Oscars, die Richard Schweizer für die Drehbücher von "Marie-Louise" und "The Search" erhielt, von der internationalen Ausstrahlung der Praesens.
Für die jüngere Generation gilt: in der Auseinandersetzung mit diesen Filmen nicht vorschnell die Nase rümpfen. Selbstverständlich bedienen einige der Filme antistädtische Reflexe, verklären das ländliche Leben und traditionelle Geschlechterrollen, und die Arbeiterschaft bleibt fast ganz ausgeblendet. Aber gerade darin liegt auch der Reiz einer differenzierten Fragestellung: Welche Bilder wurden da gezeigt und mit welchem Hintersinn? Wo hat sich das schweizerische Selbstbild grundsätzlich verändert, und in welchen Bereichen ist es immer noch in der Geistigen Landesverteidigung verhaftet? Und welche Bilder der Schweiz oder der so glorios aufgezoomten globalisierten Gegenwart setzen uns eigentlich heutige Filme und andere Massenmedien vor?
Denn auch wenn wir uns weltläufig geben, uns mit Hinduismus, chinesischer Religion und Buddhismus befassen - wir tun es immer noch mit unserer Schweizer Brille vor Augen.
[Anlässlich der Ausstellung "Praesens-Film - Eine Schweizer Filmgeschichte" im Stadthaus in Zürich, Nov-Dez 2000]