Favela Olímpica
Samuel Chalard, Brasilien, Schweiz, 2017o
Favela Olímpica zeigt die Auseinandersetzung der BewohnerInnen der armen, doch sozial intakten, lebhaften und kriminalitätsfreien Favela Vila Autódromo mit dem städtischen Establishment. Das Quartier liegt neben dem neuen Olympiastadion und soll im Zuge des sportlichen Grossanlasses abgerissen werden. Auf der einen Seite ein neoliberaler Bürgermeister, Städteplaner, Architekten mit einer geschmeidigen PR-Maschinerie. Auf der anderen einfache Menschen, die mit Durchhaltewillen und Einfallsreichtum um ihre Existenz, aber auch ihre Würde kämpfen.
Schandfleck versus Zuhause -- von diesem Kampf der Obrigkeiten gegen die Armen erzählt der Westschweizer Samuel Chalard in seinem ersten langen Dokumentarfilm. Und ja, seine Sympathien liegen klar bei den Favela-Bewohnern. Wenn die Bagger die einfachen Häuser plattmachen, sind das starke Bilder. Gleichwohl kommen auch Behörden zu Wort. Das tut dem Film gut.
Anna KappelerLe film du réalisateur suisse Samuel Chalard, présenté à la Semaine de la critique, nous invite à découvrir une réalité à laquelle personne ne s’est jamais vraiment intéressé.
Giorgia Del DonGalerieo
Das gallische Dorf von Rio: Am Rand des Olympiaparks wehrt sich eine Favela gegen die Räumung durch die Regierung.
Bedrohlich schwarz glänzt das übergrosse Medienzentrum zur Mittagszeit am Eingang zum Olympiapark, die Sonne brennt senkrecht auf den Asphalt. Wo früher eine riesige Favela stand, ist innerhalb von zwei Jahren ein überdimensionaler Parkplatz entstanden. Shuttlebusse passieren die Pforte. Journalisten aus aller Welt bahnen sich ihren Weg zu den Stadien, aber kaum einer beachtet die kleine Siedlung in der Kurve am Ufer der Lagoa de Jacarepaguá – weit im Westen von Rio de Janeiro.
Abseits von der Millionenmetropole, aber in unmittelbarer Nähe zum Nabel der Sportwelt stehen über ein Dutzend kleine, würfelähnliche Häuser, ganz in Weiss gehalten, mit einer hohen Mauer umgeben. Steril, fast leblos wirkt die Kommune. Nur der Geruch von gebratenem Fleisch und Motorenöl lässt erahnen, dass hier tatsächlich noch Menschen leben, die sich von dem Olympiaprojekt nicht haben vertreiben lassen. «Das Vorgehen der Regierung war traumatisch und brutal für uns», sagt Luis Claudio da Silva.
Unfaire und tragische Taten
Als Vertreter der Vertriebenen erhebt er die Stimme gegen das Unrecht, das der Gemeinde Vila Autódromo vor drei Jahren widerfahren ist. Über 650 Familien mussten im Umkreis der ehemaligen Autorennstrecke dem Mammutprojekt Olympia weichen. «Immer dort, wo es Mega-Events gibt, werden Familien zerstört, Rechte verletzt – es gibt keinen Respekt gegenüber den Menschen», sagt Luis Claudio da Silva. «Die Immobilienspekulanten profitieren», sagt er und schielt zum mächtigen Medienzentrum. «Wir sind sehr traurig darüber, dass das Olympische Komitee so etwas zulässt. Die Spiele werden für unfaire und tragische Taten missbraucht.»
Etwas weniger dramatisch sieht es Juliana, die ihr halbes Leben direkt am Wasser verbracht hatte. Vor drei Jahren aber wurde sie von der Regierung von Rio de Janeiro vor die Wahl gestellt, ob sie in ein neues Quartier ziehen oder eine finanzielle Entschädigung entgegennehmen wolle. «Es schmerzte mich, dass ich mein Haus verlassen musste, aber es geht mir heute nicht schlechter», sagt die 60-Jährige. Sie wollte ihr altes, unförmiges Haus nicht verlassen und kämpfte bis zuletzt dafür, ihre Ziegelhütte nicht verlassen zu müssen.
Gierige Bewohner
Heute wohnt sie dank ihrem Widerstand nur zweihundert Meter Luftlinie entfernt in den klinischen Klötzchen aus Backstein und Kalk. Es ist eine Alternative, die für die meisten Bewohner nicht infrage kam. «Viele der Bewohner der alten Favela wollten von der Regierung das Vierfache der Offerte, obwohl ihr Haus so schräg war und fast in den See kippte. Am Ende wurden sie von der Polizei vertrieben.» Juliana hat zwar ihr Haus, aber nicht ihre Verbundenheit zu ihrer Umgebung verloren.
Immerhin hat ihr die Regierung Strom und Gas versprochen und Wort gehalten, trotzdem kann sie den Sommerspielen nichts Positives abgewinnen. «Nein, ich freue mich überhaupt nicht über Olympia», sagt Juliana, die im Vorgarten ihres Blocks ein kleines Bistro betreibt. Die Kundschaft bleibt aber weitgehend aus. Das Gitter um den Fuhrpark der öffentlichen und privaten Busse verhindert im gallischen Dorf die Laufkundschaft – und das, obwohl an diesem Knotenpunkt jeden Tag Tausende einen Steinwurf entfernt ein- und aussteigen. (Tagesanzeiger.ch/Newsnet)
Im grössten Armenviertel von Rio de Janeiro herrscht Kriegszustand: von Januar bis Juni wurden in dem Bundesstaat fast 3000 Menschen getötet – darunter mehr als 100 Polizisten.
In der grössten Favela von Rio de Janeiro ist ein Krieg zwischen Drogenbanden und Sicherheitskräften ausgebrochen. Seit den Olympischen Spielen vor rund einem Jahr hat sich die Lage dramatisch verschlechtert.
Die Behörden ordneten heute an, dass 950 Soldaten in das Armenviertel Rocinha mit geschätzt über 70'000 Einwohnern einrücken sollen. Zuvor hatte der Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Luiz Fernando Pezao, rasche Unterstützung angefordert. Helikopter kreisten über der Favela. In den Schulen der Umgebung wurde der Unterricht vorzeitig beendet.
Innert sechs Monaten über 2700 Tote
Bereits Ende Juli waren 8500 Soldaten entsandt worden, um in der 6,5-Millionen-Metropole die Machtzunahme von Drogenbanden zu bekämpfen. Von Januar bis Juni wurden im Bundesstaat Rio de Janeiro bereits 2723 Menschen getötet – 10,2 Prozent mehr als im Vorjahreszeitrum.
Die Polizei wird der Lage kaum noch Herr. Es wurden 2017 schon über 100 Polizisten getötet. Wegen der Lage sind auch die Tourismuszahlen eingebrochen, die Auslastung der Hotels in Rio lag laut der Tourismusbehörde zuletzt bei unter 50 Prozent. Der Bundesstaat kämpft mit enormen Finanzproblemen, was zu Sparmassnahmen auch bei der Polizei und zur Reduzierung von Unterstützungsmassnahmen in den Armenvierteln (Favelas) führte.
Viele der Favelas sind rechtsfreie Räume - kriminelle Banden haben die Macht übernommen, der Drogenhandel blüht, es gibt viele Schiessereien. Den grössten Einfluss hat das «Comando Vermelho», das «Rote Kommando». (nag/sda)