Turist
Ruben Östlund, Schweden, 2014o
Eine junge schwedische Familie macht Skiurlaub in den französischen Alpen. Die Sonne scheint und die Urlaubsidylle scheint perfekt. Doch plötzlich rast beim Mittagessen auf der Restaurant-Terrasse eine Lawine mit voller Wucht auf sie zu. Panisch stürzt Mutter Ebba zu den beiden Kindern – doch Vater Tomas ergreift alleine die Flucht. Als sich der Lawinenstaub legt, sind alle unversehrt. Doch nichts mehr ist, wie es war.
Denn die Feigheit wirkt toxisch. Wir erleben in einer kühlen, beunruhigenden Inszenierung die Katastrophe einer vergifteten Liebe und die wachsende Verzweiflung eines Mannes über sich selbst. Aber weil der Regisseur und Autor Östlund das alles als Komödie versteht, hat er sich dann auch einen Teil sehr amüsanten, fein sarkastischen Kitsch erlaubt.
Christoph SchneiderDie Lawine stoppt. Eine Katastrophe, das väterliche Heldenbild ist zerdeppert, und wie alle nun an der neuen Jämmerlichkeit laborieren, die Frau wohl mehr noch als der Mann, daraus bastelt Ruben Östlund ein beklemmendes, komisches Kammerspiel.
Fritz GöttlerFabuleuse chronique étalée sur une semaine, cette sombre comédie de Ruben Östlund repose sur la sublime beauté des paysages, le décor géométrique de l’hôtel merveilleusement situé, lieu d’un huis clos qui tourne à l’aigre, l’humour habilement distillé par le metteur en scène.
Jean-Claude RaspiengeasSnow Therapy laisse le spectateur durablement exalté par la virtuosité ahurissante avec laquelle le réalisateur arrive à actionner, à partir d'un événement finalement assez anodin, une avalanche irrésistible de conflits, de crises individuelles et de remises en cause.
Bénédicte ProtAu-delà du couple, le cinéaste observe une société privilégiée, mais qui pète de trouille, asphyxiée par le principe de précaution, la normalisation forcée des comportements, l'absence criante de solidarité. Le tout dans un style glaçant, comme la neige.
Jacques MoriceGalerieo
Lawine kommt, Mann rennt weg, Frau und Kinder bleiben zurück. Mit «Turist» rückt der Schwede Ruben Östlund die verwirrte Männlichkeit ins Bild, auf gnadenlos lustige Art.
Das Spektakel kann man kaufen. Für den Spielfilm «Turist» plante der schwedische Regisseur Ruben Östlund die «spektakulärste Lawinenszene der Filmgeschichte», wie er beim Gespräch in Cannes erzählt. Die Latte habe ziemlich hoch gelegen, sagt er, und dann sei er auf die Archivaufnahme gestossen, die eine Lawine in British Columbia zeigt. Er kaufte die Rechte und installierte im Studio ein Gipfelrestaurant vor Greenscreen. Mit etwas Schneestaub und digitalen Tricks war es fertig, das Spektakel in Weiss. Jetzt knallts im Kino, die Lawine rollt an, wird mächtiger und fegt über die Mittagstische, sodass die Wintertouristen panisch das Weite suchen.
Verletzt wird niemand, es war nur das Restgestöber einer gezielt ausgelösten Lawine, das die Skifahrer erschreckte. Aber eine Familie nimmt doch psychischen Schaden. Tomas, der Vater, krallt iPhone und Handschuhe, als die Schneemassen zu Tal donnern, und flüchtet, ohne sich umzusehen. Seine Frau Ebba beschützt verängstigt die zwei Kinder. Wie sich der Spuk legt, stakst Tomas zurück, als sei nichts gewesen. Der Urlaub in den französischen Alpen geht weiter, alles wie gehabt, der Skilift, das Zähneputzen im Luxusresort, die Thermowäsche. Aber dann kommen die ätzenden Vorwürfe beim Nachtessen mit Freunden. Vor kleinem Publikum klagt Ebba ihren Mann an, und dieser windet sich. Mit Skischuhen könne man gar nicht rennen, verteidigt er sich. Ebba lacht ungläubig.
«Lachen ist erlaubt»
Das ist das Modell von «Turist»: ein System, das mit aller Kraft versucht, seine Bestände zu erhalten – auch wenn das Chaos längst eingeführt worden ist. Mit ihren zwei blonden Kindern wirken Tomas und Ebba wie die Kernfamilie vom Förderband, und Tomas, das ist der moderne Mann: ein Versorger, der die latenten Risiken des Wohlfahrtsstaats einschätzen kann, aber die tödlichen Gefahren nicht mehr kennt. Das Heldenhafte hat er verlernt, gehandelt hat er aus Reflex, quer zu jeder Rollenerwartung. Als ihm dämmert, dass er versagt hat, sackt er in sich zusammen. «Ich bin auch ein Opfer meiner Instinkte!» So ist die saturierte Männlichkeit: waschlappenhaft, wenn sie das Geschlechterbild nicht erfüllt; ergreifend, wenn sie sich ihrer Schwäche stellt, die sie haben darf.
Dabei ist «Turist» eine Komödie, auf ihre Art. «Es gibt keinen bestimmten Moment, in dem Lachen nicht erlaubt ist», sagt der 40-jährige Ruben Östlund. Das Beste sei, wenn ihm eine komische Szene gelinge, die Sekunden später ins Entsetzliche kippt. «Bricht der Held in Tränen aus, lacht das Publikum zuerst und merkt dann, wie schlimm die Situation ist.» Im Register der «awkward comedy», der Kunstform der Peinlichkeit von «The Office» bis Judd Apatow, ist Östlund ein Meister. Oben lacht man, unten kringeln sich die Zehennägel, weil der Held alles versucht, um sich keine Blösse zu geben.
«Das Kino hat das Stereotyp des männlichen Helden endlos reproduziert. Aber was geschieht, wenn man den Erwartungen nicht entspricht? Und vor einer Gruppe das Gesicht verliert?» Östlund inszeniert die Blamage des Mannes mit unheilvoller Bildsprache und strenger Präzision, auch in den Dialogen. Dieses Timing! Diese Perfektion, mit der die unangenehmsten Vorwürfe einschlagen! Um gleich wieder weggewischt zu werden.
So tun, als ob alles in Ordnung sei, das ist Östlunds Thema seit seinem Spielfilm «Involuntary» (2008). «Play» (2011) zeigte in quälenden Totalen, wie schwarze Jungen weisse Jungen schikanieren. Auch das eine Studie des westlichen Verhaltens, das sich an ein Ideal des Zusammenlebens klammert und noch freundlich bleibt, wenn man ihm unfreundlich kommt. «Play» sei «provokativ», gibt Östlund zu, aber auch eine Komödie, und in «Turist» dürfe man erst recht lachen. Und gelacht wurde in Cannes, wo der Film den Jurypreis der Sektion «Un certain regard» gewann. Fast ein Crowdpleaser, oder? «Vielleicht, das war aber überhaupt nicht meine Absicht!» Was ist seine Absicht? Die kontrollierte Sprengung fixer Vorstellungen, die Studie der Dynamik in der Gruppe. Als Nächstes dreht Östlund einen Film, in dem Schauspieler Affen spielen. Klingt lustig, irgendwie.
Ein phänomenaler Stilist
«Turist» soll vorerst die eine oder andere Liebesbeziehung zerstören, sagt Östlund. Und zeigen, wo das neue Kino hinzielt. Es erzählt keine «Geschichte», bietet keine Auflösung – «wie uninteressant!» –, sondern kreise um ein Konzept. In diesem Fall um die Idee der Männlichkeit, um die Bilder, die wir uns davon machen. «Die Frage, welche Gesellschaft wir wollen, ist die Frage danach, welche Bilder wir von uns schaffen.» Das Kino soll verbreitete Einstellungen hinterfragen, es sei ja selbst schuld daran, dass seine Klischees unser Handeln prägen. «Schwer zu sagen, wie viel von unserem Leben vom Kino kommt und wie viel aus der Erfahrung.»
Deshalb endet «Turist» nicht mit einer Aussprache. Sondern mit zwei sich spiegelnden Bildideen zur demontierten Männlichkeit. Zuerst in einer (nur gespielten?) Rettungsaktion im Nebelweiss der Skipiste. Dann, in der phänomenalen Coda, im Touristenbus auf einer Bergstrasse mit beängstigend engen Kurven. Der Fahrer lenkt, bremst, fährt ruckartig an, und die Gruppe erfasst die Panik. Tomas, Ebba, die Kinder und fast alle anderen steigen aus und gehen die Strasse zu Fuss hinunter, eine prekäre Herde, die eine Gefahr gebannt hat.
Und Ruben Östlund, dieser Stilist, zeigt uns die Gruppe frontal, fasst die Einstellung immer weiter und lässt die Komparsen ein wenig zurückfallen, bis Tomas an der Spitze geht. Da ist er wieder, der Anführer.