Aloys
Tobias Nölle, Schweiz, 2016o
Der verschrobene Privatdetektiv Aloys beobachtet durch seine Kamera das Leben anderer, bis der Tod seines Vaters ihn aus seiner geordneten Bahn wirft. Als er nach einer durchzechten Nacht in einem Bus aufwacht sind seine Kamera und die Aufnahmen verschwunden. Kurz darauf ruft ihn eine mysteriöse Frau an und erpresst ihn zu einem obskuren Experiment.
Galerieo
Der Zürcher Tobias Nölle erzählt in «Aloys» die wundersame Geschichte eines Einsamen. Im «Panorama» der Berlinale gewann er damit den Kritikerpreis.
Zum Beispiel diese Szene: Ein Seehund schwimmt auf einen zu mit Schwung, aber zwischen ihm und uns ist Glas, wir wissen das, er nicht, und deshalb stösst sich das arme Tier die Schnauze. Der Seehund lebt im Zürcher Zoo, und dass er wirklich in die Glaswand schwamm, war ein feiner Zufall. Der Zürcher Regisseur Tobias Nölle («René») hätte den Zusammenprall sonst digital herstellen müssen. Aber ihm ist dieser Augenblick natürlicher Zauber viel wert, man merkt das im Gespräch. Der geschenkte Moment legitimierte die metaphorische Vorstellung.
Die Szene aus «Aloys», Tobias Nölles erstem langem Spielfilm, erzählt von einem gefangenen Tier, das immer wieder gegen eine Aquariumscheibe stösst und trotzdem glaubt, es sei im Atlantik, weil es zum Glück vergesslich ist. Und als ambivalentes Sinnbild umspinnt sie eine kuriose Hauptfigur, Aloys Adorn, Privatdetektiv, dem sein Vater die Unsichtbarkeit beigebracht hat. Nun, nach des Vaters Tod, nährt er sein Leben ganz allein vom ausgespähten Leben anderer. Er hat etwas von jenem Seehund, dieser Aloys. Das Glück des Vergessens ist ihm zwar nicht gegeben, aber er hat die Macht der autistischen Illusion. Sie schafft die Überzeugung, eine Wohnung, in die dem Aloys keiner kommt, und ein Schutzmantel aus Unnahbarkeit seien Welt genug.
Die Einsamkeit des Aloys ist das, was einen zuerst berührt: Wie einer dasteht, quasi ein entlaubter Baum, der von inneren Vorräten zehrt. Der grossartige Österreicher Georg Friedrich spielt das, er hat das Talent zu einer dornigen Zartheit, und das Stichwort ist «Isolation». Ja, sagt Tobias Nölle, das reize ihn auch in der Wirklichkeit, «isolierte Menschen in ihren Paralleluniversen», die man mit filmischer Fantasie ausstatten könne – «meistens sind es leider Verrückte», aber eben auch Unangepasste.
Überhaupt sei die Isolation unser Thema, als Schweizer in einer Schweiz, die sich in ihrem Alleinsein stets selbst beobachte. Wo keiner im Tram gern einen Sitznachbarn habe, im Gegensatz zu New York, wo Nölle Film studiert hat und wo «einem fremde Leute an der Schulter einschlafen». Und dann die Einsamkeit des Berufs: «Als Regisseur kenne ich sie fast zu gut», jene versponnene Zeit des Schreibens, «in der einen die Frauen verlassen» und einem die Haustiere wegliefen, wenn man welche hätte. Kürzlich habe er gemerkt, dass die Pflanze, die er zum Geburtstag bekommen habe, tot sei. Vermutlich ist auf diesem einsamkeitsgedüngten Erfahrungsgrund die poetische Vorstellung eines Aloys gewachsen.
Verliebte Fantasien am Telefon
Aber vielleicht ist der Mensch zum Alleinsein doch nicht gemacht. Er hat nicht gelebt von den isolationistischen «Fantasiegebilden der Selbstpräsentation» in den sozialen Medien. Selbst in der egoistischen Schweizer Filmszene existieren Schwarmwesen ohne Missgunst und das Bedürfnis nach «Sippe». Tobias Nölle gebraucht dieses etwas altertümliche Wort, es klingt warm bei ihm, nach Heimatgefühl im Kollektiv. Er habe es genossen, zu denen zu gehören, die «aus ihren Höhlen krochen» und sich zusammengetan hätten zur Herstellung einer nationalen Apokalypse in «Heimatland», dem Film aus zehn Köpfen.
Er wurde deshalb Mitgründer des Filmerkollektivs 8 Horses, das sich auch als Produktionskollektiv etablieren will: aus Lust am «Austausch» und Überdruss an der «dialoglosen Kreation». Dort herrscht nun Gunst statt Missgunst: «Wir hoffen stets, dass der andere einen super Film macht.» Dort hat er kommunikationswillige Partnerschaften und, wie man sagen könnte, Brüder im Geist gefunden, Lorenz Merz («Cherry Pie») oder Simon Jaquemet («Chrieg»), Regisseure, die, wie er, weniger Hang haben zum harten Sozialrealismus als zur durchlässigen Wirklichkeit. Zum existenziellen Rätsel, zum lyrischen Stilwillen, gar zur magischen Halluzination. Auch auf diesem kollektiv bestellten Boden ist die individuelle Originalität des Aloys gewachsen.
Was für ein sanft-rauer, tragikomischer Fluss in diesem Film. «Aloys», das ist am Ende die Geschichte einer Aufweichung. Einer telefonischen Vereinigung zweier verliebter Fantasien in verzauberten Wäldern. So will es scheinen. So recht weiss man es aber nicht. Vielleicht ist es auch die Vereinigung zweier schmerzhafter Wahnsinne oder der Albtraum eines Einzigen. Das reale Glück und die Schizophrenie sind schwer zu unterscheiden.
Im Grunde seis eine «Boy meets girl»-Geschichte, und «Spannung hat viel mit Hoffnung zu tun». Man ahnt: Der Schöpfer hat seine Vorstellung und wünscht seinen Geschöpfen alles Glück. Den pessimistischeren Zuschauer zwingt er aber nicht zum Optimismus. Er schätze zwar, wenn eine Geschichte funktioniere, wie er wolle, sagt Nölle. Aber er liebe auch die Risiken der Mehrdeutigkeit.