Dem Himmel zu nah
Annina Furrer, Schweiz, 2015o
1991 nahm sich die Schwester der Schweizer Dokumentaristin Annina Furrer das Leben, 2009 der eine ihrer zwei Brüder. In diesem Dokumentarfilm geht sie der Frage nach, wie es in einer weitgehend stabilen und zur Selbstreflexion bereiten Familie gleich zu dieser zweifachen Tragödie kommen konnte und welche Rolle psychische Krankenheiten, Drogensucht und familiäre Konstellationen dabei gespielt haben könnten. Erinnerungen, Vermutungen und eindrückliche Dokumente fügen sich dabei zu einer assoziativen Erzählung.
Greifen DokumentaristInnen in ihren Filmen hochintime, oft auch ausgesprochen schmerzhafte Erfahrungen auf, die sie selbst gemacht haben, so bangt man als Zuschauer: Wird uns da mehr an Persönlichem zugemutet, als man wirklich wissen möchte? Wird sich der Film im Selbstmitleid suhlen, gar in peinlicher Selbstentblössung erschöpfen? Geht es dabei um ein Worst-Case-Szenario wie den Selbstmord zweier Geschwister und spricht die Autorin zu Bildern von symbolschweren Schneelandschaften dann noch den trauerumflorten Kommentar, so schrillen vollends die Alarmglocken. Doch die gebürtige Bernerin Annina Furer, die mehrheitlich fürs Fensehen arbeitet und einen unvergesslichen Kinofilm über Züri West gedreht hat, lässt alle Fallen, die sie anfänglich magnetisch anzuziehen scheinen, hinter sich, indem sie unbeirrbar voranschreitet in der familiären Selbsterforschung. Immer wieder eröffnen ungeahnt neue, vielfach frappierende Dokumente neue Zugänge zum Thema, Trauer und Analyse verfliessen, die persönlichen Erlebnisse werden zur universellen Reflexion über die Rätselhaftigkeit der menschlichen Existenz.
Andreas FurlerIn seiner komplexen Verbindung von im Off kommentierten Rückblenden, Archivmaterial, Selbstreflexionen und Familiengesprächen ein eindrücklicher und erschütternder Dokumentarfilm über Suizid. Vielleicht verleiht gerade der bisweilen unmögliche Versuch, in Worte zu fassen, verstehen zu wollen, was immer unverständlich bleiben wird, Furrers schmerzhaft authentischer Spurensuche eine so grosse emotionale Kraft. (Auszug)
Geri KrebsGalerieo
Die Berner Regisseurin Annina Furrer hat zwei Geschwister durch Suizid verloren. Im Film «Dem Himmel zu nah» verarbeitet sie einen Teil ihrer Geschichte.
Warum hatten Sie das Bedürfnis, diesen Film zu machen?
Es war eine intuitive Reaktion. Als ich zwanzig war, hat sich meine Schwester Bethli das Leben genommen, knapp zwanzig Jahre später geschah dasselbe mit meinem Bruder Marius; es ist verrückt, wenn einem das zwei Mal zustösst. In der Not war es für mich das Natürlichste, eine Kamera in die Hand zu nehmen, schliesslich ist das mein Beruf. Drei Monate nach dem Tod meines Bruders rief ich den Kameramann Peter Guyer an und fragte ihn, ob er filmen könne, wie ich mit Marius’ Partnerin Theres die Wohnung räume. Wir hatten noch keine Ahnung, ob daraus einmal ein Film würde. Aber als ich anfing, am Drehbuch zu schreiben, merkte ich, dass mir das guttat.
Ihr jüngerer Bruder Jonas sagt im Film, dass dieses Projekt ja spannend sei für die Familie, aber er zweifelt daran, ob es etwas bringt, die Geschichte öffentlich zu teilen.
Als Marius starb, hatte ich dieses Thema schon fast zwanzig Jahre mit mir herumgetragen. Ich hatte jeden Artikel dazu gelesen, jeden Film gesehen. Und ich kannte die Zahlen: Zwei bis drei Menschen nehmen sich in der Schweiz pro Tag das Leben. Also gibt es ganz viele Angehörige, die von Suizid betroffen sind, und trotzdem spüre ich eine grosse Unsicherheit im Umgang damit. Mein Anliegen war daher auch: Lasst uns darüber reden.
Medien sind ja sehr zurückhaltend, wenn es um die Berichterstattung über einzelne Suizidfälle geht, Stichwort Werther-Effekt. Wie sind Sie damit umgegangen?
Mir wurde im Lauf der Arbeit bewusst, wie genau man sich überlegen muss, was man zeigt und was nicht. Ein Psychiater, mit dem ich am Telefon über den Film sprach, warnte mich davor, allzu konkret zu werden. Daraufhin mussten wir – Produzent Peter Guyer, Cutter Konstantin Gutscher und ich – unsere Haltung dem Suizid gegenüber überprüfen. Natürlich wollten wir nicht dafür verantwortlich sein, dass sich wegen unserem Film jemand das Leben nimmt. Aber gleichzeitig wollten wir ja darüber sprechen.
Wie haben Sie das Problem gelöst?
Wir haben den Film umgeschnitten und die Bilder vom Ort, wo Marius gestorben ist, herausgenommen. Dann haben wir den Film dem Suizidexperten Konrad Michel vorgelegt. Er hatte keine Bedenken aus psychiatrischer Sicht.
Ihre Geschwister waren beide in psychiatrischer Behandlung, als sie starben. Wie ist Ihre Haltung der Psychiatrie gegenüber?
Meine Eltern und ich hatten über Jahre eine Wut im Bauch. Der Film gab mir die Möglichkeit, mich der Psychiatrie anzunähern. Ich habe mit unterschiedlichen Psychiatern gesprochen und erkannt, wie schwierig es ist, psychische Krankheiten zu behandeln. Ganz ausgesöhnt habe ich mich aber nicht. Vor allem, was den Tod meiner Schwester in der geschlossenen Abteilung der Waldau angeht – dass so etwas möglich ist, kann ich nach wie vor nicht ganz nachvollziehen.
Heinz Böker, damals Chefarzt an der PUK Zürich, spricht im Film von «Grenzsituationen», die man nicht voraussehen könne, und von «Irrtumswahrscheinlichkeit». Wie viel haben Sie als Angehörige damit anfangen können?
Wie gesagt, ich habe ein gewisses Verständnis entwickelt. Auch habe ich verstanden, wie lange der Weg einer Therapie ist. Und dass nicht jeder, der psychisch krank ist, diesen bis zum Ende gehen mag.
Die Psychiatrie sagt ja auch, dass der allergrösste Teil der Suizide im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung geschieht.
Genau. Das ist gerade für Angehörige ein Trost. Ich stand Marius sehr nahe und wusste, dass er ein sehr schweres Leben hatte. Daher kann ich seine Tat, so schlimm sie auch ist, heute verstehen.
Hat es viel Überzeugungsarbeit gebraucht, Ihre Familie und Theres, die Partnerin von Marius, für Ihr Projekt ins Boot zu holen?
Meine Mutter machte mir zuliebe mit. Sie sah, wie schlecht es mir ging und dass mir die Arbeit half. Mein Bruder war bis am Schluss sehr skeptisch, auch noch vor der Kamera. Doch irgendwann merkten wir beide, dass wir einander dadurch viel näher kamen und über Erfahrungen sprechen konnten, die wir sonst nicht thematisiert hätten. Theres war ganz wichtig für den Film; bei allen grossen Entscheidungen habe ich sie beigezogen. Ein Grund für diesen Film war auch das ganze Archivmaterial, das wir als Familie haben, das ist ein richtiger Schatz: die Bilder, die Bethli gemalt hat, die Fotografien meines Vaters, die Tagebücher, die meine Mutter für ihre vier Kinder über 15 Jahre geführt hat. Für eine Dokumentarfilmerin ein gefundenes Fressen.
Ihr Vater wollte sich vor der Kamera nicht äussern. Hat das Ihr Projekt nicht gefährdet?
Nein. Die Schwierigkeit war bloss, wie erkläre ich dem Zuschauer, dass mein Vater zwar mitmachte im Film, aber vor der Kamera nicht über die Geschehnisse reden wollte. Es war ein Glück, dass er mir schliesslich eine Mail geschrieben hat, in der er seine Abstinenz in den Gesprächen begründet und zudem erklärt, welche Wege er für sich persönlich gefunden hat, mit dem Tod seiner Kinder umzugehen. Seine Reaktion zeigt auch, dass jeder, der so etwas erlebt hat, das anders bewältigt.
Woher nahmen Sie die Legitimation gegenüber Ihren Geschwistern, Ihr Schicksal publik zu machen?
Schon seit Bethlis Tod hatte es mich gereizt, etwas zum Thema Suizid zu machen, ich hatte aber noch Skrupel. Doch als ich das zum zweiten Mal erlebte, spürte ich: Jetzt muss es um mich gehen, jetzt muss ich auch ein wenig egoistisch denken. Der Film war eigentlich Notwehr. Das war das eine. Andererseits hatte ich auch das Bedürfnis, meine Geschwister zu verewigen und ihnen und ihrem Ringen mit dem Leben und ihren Nöten Respekt zu zollen. Das tiefe Gefühl, dass ich diesen Film auch aus Liebe zu meinen verstorbenen Geschwistern machte, bestärkte mich in meinem Glauben, dass daran nicht so viel falsch sein kann.
Marius kommt im Film zu Wort – auf Tonbändern, die er wie ein Tagebuch besprach.
Ich hörte mir die Bänder erst an, als der Film zu drei Vierteln geschnitten war – aus Selbstschutz. Es war zu einem Zeitpunkt, als die Arbeit stagnierte. Und dann stiess ich auf diese Stelle, an der Marius erklärt, was mit ihm passiert ist. Grossartig. Aber durften wir das verwenden? Wir führten intensive Gespräche, auch mit Theres. Und erkannten, dass diese Selbstanalyse der Geschichte eine neue Dimension geben würde.
Der Blick ins Familienalbum der Furrers erscheint sehr idyllisch. Haben Sie den Moment gefunden, als Sand ins Getriebe kam?
Klar, es gibt Ahnungen – die Drogen haben eine Rolle gespielt, der Umstand, dass Marius adoptiert war und eine sehr schwere frühe Kindheit hatte –, aber das gibt es ja in jedem Lebenslauf, dass da so viele Weichen sind, so viele Gründe, dass etwas passiert oder nicht. Ich selber habe keine Erklärung – und muss damit leben. Ich habe herausgefunden, dass man sich vom Glauben lösen muss, dass man auf das Schicksal seiner Nächsten grossen Einfluss hat. Das ist das Fazit. Darum ist es so wichtig, im Moment zu leben und nicht ständig Angst zu haben um seine Nächsten. Klingt banal, aber darum geht es.
Hat sich Ihr Verhältnis zum Tod verändert?
Woody Allen hat einmal gesagt: «Ich bin dagegen.» Das kann ich unterschreiben. Vielleicht habe ich mittlerweile etwas weniger Angst. Aber nicht viel. Endlichkeit fährt einem erst so richtig ein, wenn man jemanden wirklich Nahen verliert. (Der Bund)