Eine ruhige Jacke
Ramon Giger, Schweiz, 2010o
Roman spricht nicht seit sechsundzwanzig Jahren. Seine Freude am Filmen und Gefilmtwerden sowie seine Beziehung zu seinem Betreuer Xaver erlauben ihm, Kontakt mit der Aussenwelt aufzunehmen. Als Roman ein unerwarteter Schicksalsschlag trifft, stellt sich die Frage nach der Fähigkeit eines Autisten, Anteilnahme zu zeigen.
Wie dreht man einen Film über einen Mann, der nie etwas sagt, einen selten anschaut und oft davonläuft? Indem man sich fünf Jahre Zeit nimmt, ihn immer wieder besucht und eine Geduld aufbringt, für die es einen Preis geben sollte. «Eine ruhige Jacke» dauert nur fünf Viertelstunden, aber die Geschichte prägt sich ein, als hätte man einen Tag lang im Kino gesessen. Schlicht, stark und mit fantastischen Bildern. So 13 Uhr.
leoGalerieo
In seinem Dokumentarfilm «Eine ruhige Jacke» porträtiert Ramòn Giger den jungen Autisten Roman Dick in seinem Alltag auf einem therapeutischen Bauernhof.
Moderne Menschen lassen sich ungern den Willen eines anderen aufzwingen, sagt Romans Betreuer Xaver zu Beginn des Films, «Autisten sind insofern sehr moderne Menschen». Dies ist einer der wenigen Kommentare im Film, in dem Giger – von Haus aus Kameramann, etwa für Jan Gassmanns «Off Beat» – vor allem Bilder sprechen lässt.
Und die zeigen den heute 29-jährigen Roman tatsächlich als modernen Menschen – wenn man so will in extremis: Er produziert sich gern vor der Kamera beim Gitarrenklimpern und gibt im Maschinensäge-Kurs zu viel Gas, wie seine Altersgenossen auf der Strasse.
Und wie viele Männer schätzt Roman Elektronik, besonders die Videokamera, die ihm der Regisseur gegeben hat, damit er seine eigene Sicht der Dinge festhalten kann – etwa den Kuhbrunz, der sich auf dem Stallboden durchs Stroh schlängelt.
Sehschule
Wenn ihm die Zumutungen zu viel werden, klinkt Roman sich aus – nur wartet er halt nicht bis nach Feierabend, um joggen zu gehen. Er schnappt sich stattdessen ein Zweiglein vom Boden oder ein Stäublein von der Schulter des Gesprächspartners, um es minutenlang versunken zu studieren. Die Methode wäre noch manch einem zu empfehlen, würde sie nicht der gesellschaftlichen Konvention widersprechen.
Beim Anschauen dieses kommentarfreien, handwerklich schön gemachten, fast meditativen Films vergisst man diese Konvention, das sogenannt «Normale», zeitweise. Giger zwingt einen, genauer hinzuschauen, als man es sich gewohnt ist, um die vermeintliche Einkapselung des porträtierten Autisten zu durchdringen. Das gelingt erstaunlich gut, vermutlich auch dank der jahrelangen Therapie, die Roman erhalten hat.
Zwiespältige Methode
Einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen freilich die «Aussagen», die der sonst nicht sprechende Autist dank gestützter Kommunikation auf seinem Buchstabenbrett macht. Er wolle als «totaler Mensch» angesehen werden, sagt Roman etwa. Und gegen seine Dünnhäutigkeit wünsche er sich «eine ruhige Jacke».
Die Methode der gestützten Kommunikation, bei der eine geschulte Helferin den tippenden Arm des Autisten stützt, ohne ihn zu führen, ist höchst umstritten. Mehrere Studien haben gezeigt, dass autistische Probanden nur dann sinnvolle Antworten geben, wenn der Stützer die Frage kennt.
Dennoch sollte man sich beim Anschauen des Films nicht von Zweifeln irritieren lassen, zumal der Regisseur nicht allzu viel Gewicht auf das Sprachliche legt. Mag man den therapeutischen Methoden, die gezeigt werden, auch skeptisch gegenüberstehen – einen starken Eindruck hinterlässt «Eine ruhige Jacke» auf alle Fälle.