Stoker
Chan-wook Park, USA, 2013o
Nach dem Tod ihres Vaters lebt India Stoker allein mit ihrer Mutter im viktorianischen Landhaus der Familie, bis ein Mann namens Charlie auftaucht. Er gibt sich als Indias Onkel aus, doch India erkennt, dass ihn noch ein anderes Geheimnis umgibt. (Cinefile)
Der Koreaner Park Chan-Wook, vor allem für seine kompromisslose "Vengeance"-Trilogie bekannt, folgt hier dem Lockruf des Westens in eine zeitlos altertümliche, viktorianisch angegruselte Märchenwelt. "Stoker", sein internationales Debüt, zeigt Mia Wasikowska als geheimnisvolle 18-Jährige, die allerhand verborgene und gefährliche Dinge entdeckt - und schwelgt in eindrücklichen Symbolen einer erwachenden Sexualität.
Tobias KniebeNach dem plötzlichen Unfalltod ihres Vaters sieht sich eine verstörte 18-Jährige, die mit ihrer Mutter in einem aristokratischen Wohnsitz lebt, mit einem bisher nie gesehenen Onkel konfrontiert, der ihr Seelenleben in ungeahnte Verwirrung stürzt. Ein subtiler, mit frappierendem stilistischem Feingefühl inszenierter Psychothriller, der sich viel Zeit lässt, bis sich Träume in Albträume verwandeln. Als ein ganz allmählich anschwellendes Crescendo optischer und akustischer Verführungen baut er die Handlung zunächst allein aus Andeutungen, Analogien und Zeichen auf, wobei er Elemente westlicher Filmvorbilder mit asiatischen Topoi zu einer ausdrucksstarken, bild- und symbolkräftigen Genregeschichte verknüpft.
Sascha KoebnerGalerieo






Wentworth Miller, Star aus «Prison Break», hat das Drehbuch zu einem Psychothriller geschrieben. Jetzt erscheint «Stoker» des Koreaners Park Chan-wook auf DVD. Mit dabei sind Nicole Kidman und Mia Wasikowska.
Kinder, sagte der Dichter, sollen zwei Dinge bekommen: Wurzeln und Flügel. Aber ob er damit auch die von Nachtschattengewächsen und Raubvögeln gemeint hat? Für das Mädchen India (Mia Wasikowska) endet die Kindheit mit ihrem 18. Geburtstag; am gleichen Tag wird sie zur Halbwaise, als ihr Vater bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kommt. Nicht lange danach wird India in ihren ersten Stöckelschuhen durchs hohe Gras pirschen und sich für erwachsen erklären. Doch bis dahin werden, metaphorisch gesprochen, noch einige Leichen der Familie Stoker aus dem Keller geholt und andere ganz real im weitläufigen Garten des Anwesens verbuddelt. Das alles kommt so, weil bei der Beerdigung von Indias Vater unerwartet ihr Onkel Charlie (Matthew Goode) auftaucht, von dessen Existenz sie nie gehört hatte. Die übrigen Anwesenden scheinen auch nichts Genaueres zu wissen, als dass er lange und weit gereist ist. Unter missbilligend zusammengezogenen Augenbrauen beobachtet India, wie der adrette junge Mann sich im Haus festsetzt und ihrer Mutter (Nicole Kidman) den Hof zu machen beginnt – dabei aber ständig die ihn trotzig ignorierende Tochter im Auge behält.
Um sofort zu ahnen, dass Indias Misstrauen gegenüber dem allzu beflissenen Onkel berechtigt ist, muss man nicht filmhistorisch bewandert sein. Wer aber seinen Hitchcock kennt, wird sich bald an des Meisters erklärten Lieblingsfilm «Shadow of a Doubt» (1943) erinnert fühlen, in dem schon einmal ein Mädchen mit einem scheinbar coolen Onkel Charlie konfrontiert war, der ein mörderisches Geheimnis hütete. Vielleicht aus diesem Grund hat sich der Koreaner Park Chan-wook, der einst von «Vertigo» zum Filmemachen inspiriert wurde, «Stoker» für sein Hollywood-Debüt ausgesucht. In der Schweiz hat der Film nicht ins Kino gefunden, dafür ist er jetzt auf DVD zu entdecken.
Bravouröse Mia Wasikowska
Mit moralisch schmerzhaften Gewaltmeditationen wie seiner berühmten Rache-Trilogie («Sympathy for Mr. Vengeance», «Oldboy», «Lady Vengeance») hat Park Kritiker und Fans, darunter Quentin Tarantino, gleichermassen beeindruckt. Im Vergleich zu den gewaltsamen Exzessen und dem bizarren Humor dieser Filme – unvergesslich etwa, wie der Held in «Oldboy» einen lebenden Tintenfisch verspeist – wirkt «Stoker» zurückhaltend inszeniert (ein im Bonusmaterial der DVD enthaltenes Outtake zeugt noch davon, dass Park zunächst noch etwas mehr mit Blutrot gemalt hat). Der rote Saft spielt hier freilich in anderer Hinsicht eine Rolle. «Vergiss nicht, dass wir dasselbe Blut teilen», ermahnt Charlie seine Nichte. In einem Psychothriller wie «Stoker», der irgendwo zwischen gotischem Schauer- und freudschem Familienroman oszilliert, bleibt das keine leere Floskel. Wie sich allmählich enthüllt, hat India bereits zu Beginn des Films den Schlüssel zur Kenntnis ihrer wahren Natur ausgehändigt bekommen.
Bravourös gespielt wird sie von Mia Wasikowska, die bereits als Tim Burtons «Alice in Wonderland» das furchteinflössende Grenzland zwischen Kindheit und Erwachsensein erforschte, und sie wirkt zunächst auch hier wie die Identifikationsfigur eines Burton-Films, Typ junge Winona Ryder: bleich, introvertiert, mit gescheiteltem Schwarzhaar und altertümelnder Kleidung, eine vermeintlich zarte Porzellanblüte im Gewächshaus postpubertärer Triebe. Das Verhältnis zur Mutter, die Nicole Kidman routiniert als verspannte ewige Prinzessin spielt, ist offenbar schon länger kühl und wächst sich nun zur libidinösen Rivalität aus. Denn paradoxerweise nähert sich India Charlie umso mehr an, je deutlicher seine Abgründe sichtbar werden. Ein Pianoduett ist wie ein Liebesakt inszeniert, auch wenn es nur in ihrem Kopf stattgefunden haben mag. Eine intime Begegnung mit einem Jungen, die leider ausartet, weckt ein dunkleres Begehren, als sie sich zunächst eingestehen will.
Geschrieben wurde «Stoker» übrigens von Wentworth Miller, dem Star aus der TV-Serie «Prison Break». Der muss wohl im Filmführer für Lacanianer nachgelesen haben, was da über Hitchcocks zwischen den Zeilen vibrierende perverse Triebmechanik steht, um das alles in seinem Drehbuch explizit hervorzukehren. Kurzum, die Story ist recht überkandidelt. Aber Park Chan-wook hat daraus eine Qualität gemacht, indem er seinen Film zu einem wirklichkeitsentrückten Stück Southern Gothic machte, virtuos stilisiert und mit üppig ins Kraut schiessender Symbolik. Eine Adoleszenz-Thriller-Etüde als schön kalligrafiertes Empfehlungsschreiben für höhere Aufgaben.