Rapito
Marco Bellocchio, Italien, Frankreich, Deutschland, 2023o
Im Jahr 1858 steht Bologna noch unter der direkten Herrschaft des Papstes. Dieser veranlasst, dass einer jüdischen Familie ihr sechsjähriger Sohn weggenommen wird, weil der Kleine als Säugling von seiner Amme angeblich heimlich getauft wurde und desahlb christlich erzogen werden muss. Nach den verzweifelten Eltern schalten sich jüdische Gemeinschaften und die internationale Presse in den Fall ein. Doch auch die Kirche zieht alle Register. Dabei ist die religiöse Umerziehung des Jungen ihr wichtigste Instrument, mit jahzehntelangen Folgen für alle Beteiltigten.
Der italienische Regisseur Marco Bellocchio wächst mit zunehmendem Alter über sich hinaus. Er dreht Filme, wie man sie nicht mehr macht, obwohl noch nie jemand Filme wie er gemacht hat. Es sind dichte Werke mit einer scheinbar glatten, in der Tiefe vibrierenden Handschrift. Sie werden von den besten italienischen SchauspielerInnen getragen, die er mit dem gebändigten Furor jedes grossen Maestro in Szene setzt. Der musikalische Vergleich passt gut: Ein bisschen wagnerianisch strebt Bellocchios Kino den Status eines Gesamtkunstwerks an, anders lohnt es sich nicht, Filme zu machen. Rapito folgt diesem Credo des Alles oder Nichts und gewinnt die Wette. Der Handlungskern ist historisch belegt: In den 1850er Jahren wird ein jüdisches Kind auf Befehl des Papstes entführt. Seine Familie versucht es mit allen Mitteln zurückzuholen und gerät in den Strudel der Ereignisse. Der 80-jährige Regisseur verwandelt den historischen Stoff in ein reines Melodrama, jede Einstellung erinnert an die italienische Malerei jener Zeit. Die Musik von Fabio Massimo Capogrosso begleitet das filmische Fresko mit Prunk und Eleganz. Bellocchio beweist noch einmal, dass er zu den grossen Künstlern seines Landes gehört.
Emilien Gür