The Blind Man Who Did Not Want to See Titanic
Teemu Nikki, Finnland, 2022o
Jaakko liebt B-Movies. Seine DVD-Sammlung ist beeindruckend, nur James Camerons „Titanic“ hat er nie aus der Plastikverpackung geholt. Auch damals nicht, als er noch sehen konnte. Der junge Mann leidet an Multipler Sklerose, ist erblindet und sitzt im Rollstuhl. Mehrmals am Tag telefoniert er mit Sirpa, die er niemals getroffen hat. Die beiden flirten, sie erzählen sich schöne Dinge, teilen ihr Leid. Denn auch die Frau am anderen Ende der Leitung ist schwer krank. Als sie eine bittere Diagnose bekommt, beschliesst Jaakko, sich in Bewegung zu setzen.
Sirpa und Jaakko trennen lediglich drei Wegstunden. Dennoch haben sich die Verliebten noch nie getroffen. Verbunden übers Internet, kämpfen beide mit Krankheiten, die sie an ihre Wohnung binden. Jaakko will das ändern. Er brauche lediglich die Hilfe von fünf Unbekannten, meint der blinde Rollstuhlfahrer, und macht sich allein auf den Weg zu seiner Liebsten. Die Reise wird zum nervenaufreibenden Thriller, bei dem wir uns auf das vielseitige Gesicht des selbst an MS erkrankten Darstellers Petri Poikolainen und auf die sichere Hand von Regisseur Teemu Nikki verlassen können. Einfach macht es uns der finnische Routinier dennoch nicht. Er erzählt Jakkos Geschichte formal radikal und macht damit alles richtig: Wir befinden uns mit dem Protagonisten buchstäblich auf Augenhöhe, der Rand seines Sehfelds, der Grossteil des Bildes, bleibt unscharf. In der Unschärfe verschwimmen Hoffnung und Angst, vermischen sich Freiheit und Zwang – und verbergen sich unheimlich viele Lektionen über das Kino. In der Blindheit sehen und fühlen wir umso mehr.
Léon Hüsler