99 Moons
Jan Gassmann, Schweiz, 2022o
Die junge Biologie-Forscherin Bigna hantiert lieber mit Zahlen als mit Menschen und behält auch in den eigenwilligen Rollenspielen, mit denen sie ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigt, stets die Kontrolle. Dabei gerät sie an Frank, Bartender eines hippen Underground-Clubs, für den sie eine zunehmende Obsession entwickelt: Der Beginn einer mehrjährigen On/Off-Beziehung, in der Worte die Neben- und die Anziehung der Körper die Hauptsache sind. Im Lauf der Zeit wendet sich das Blatt mehrmals, bis beide einschneidene Entscheidungen treffen.
Im ersten Spielfilm des Zürchers Jan Gassmann, der sich schon mit seinen Dokus Chrigu und Europe, She Loves an existenzielle Themen gewagt hat, geht es um eine junge Biologin, die eigentlich Schafe als Seismografen erforschen sollte, dann aber mehr Filmzeit mit dem Explorieren eigenwilliger sexueller Praktiken zubringt. Hat man einmal den ersten Orgasmus der Heldin auf dem Gesicht eines maskierten Mannes in ihrem Würgegriff verdaut, mündet der Film in mehrheitsfähigere Bahnen und damit in die langsam wachsende Obsession der Heldin für ihren Vorzugspartner, der als Bartender eines Undergroundclubs noch anderweitiges Begehren auf sich zieht. Gassmann zeigt bei diesem Tauchgang in eine junge Subkultur und die Dynamik des lustvollen Floatens Gespür für Atmosphäre und einen sechsten Sinn für den Einsatz toller Musik. Als Charakterstudie bleibt der Film eine Skizze, über die sparsamen Dialoge kann man geteilter Meinung sein. Doch der rohe Cinema-Direct-Stil entwickelt einen Sog, und die Sexzenen sind keine mechanische Behauptungen, sondern emotionale Grenzgänge, hinter denen öfters die Frage nach der Treue aufscheint, die ja nicht nur Sexmaniacs umtreibt. Ein Film für alle also, die keine Scheu vor der Erkundung unvertrauter Terrains haben.
Andreas Furler