Unrueh
Cyril Schäublin, Schweiz, 2022o
Neue Technologien verändern eine kleine Uhrmacherstadt im Schweizer Jura des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die junge Fabrikarbeiterin Josephine stellt das mechanische Herzstück der Uhren her, die ‹Unrueh›. Während sie sich neuen Formen der Organisation von Zeit und Arbeit ausgesetzt sieht, beginnt sie sich in der lokalen Bewegung der sozialistischen Uhrmacher zu engagieren, deren basisdemokratische Fraktion "Anarchisten" genannt wird. Dabei begegnet sie einem russischen Kartographen, den ähnliche Idee umtreiben.
Mit Dene, wos guet geit hat der Zürcher Regisseur Cyril Schäublin 2017 eine starke Talentprobe geliefert, mit Unrueh legt er sein erstes Meisterstück vor. Abermals setzt der mittlerweile 38-Jährige auf eine ganz eigene Bildsprache der Aussparungen und der Distanz zum Geschehen, doch zusätzlich gelingt es ihm diesmal, einen eigentlichen Erzählfaden in sein Spiel mit Perspektiven und im Raum schwebenden Gesprächsfetzen einzuweben. HeldInnen des Films sind die ArbeiterInnen der jurassischen Uhrenindustrie im späten 19. Jahrhundert, die von der basisdemokratischen Spielart des Sozialimus inspiriert sind – damals bekannt als Anarchismus: Man debattiert im Austausch mit AktivistInnen in Russland und auf der halben Welt zukunftsweisende Ideale wie kollektivistisches Wirtschaften und die Dezentralisierung der Macht, lebt aber auch der beruflichen und amourösen Leidenschaft nach. GegnerInnen angeblich anstrengenden Kopfkinos seien entwarnt: Schäublin und seine Crew verpacken ihre Rehabilitierung des anarchistischen Gedankenguts in einen Kokon inszenatorischer Einfälle, deren Witz und Anmut Seltenheitswert haben. Mit souveräner Beiläufigkeit bringen sie in ihrem filmischen Sinnieren über das gute Leben überdies eine Hommage an die hohe Kunst des Schweizer Uhrmacherhandwerks unter. Chapeau!
Andreas Furler