Un autre homme
Lionel Baier, Schweiz, 2009o
François kennt sich in der Filmwelt nicht aus, muss aber für ein Lokalblatt im Vallée de Joux Filmkritiken schreiben. Rosa hingegen ist eine bekannte Rezensentin, die für die grösste Landeszeitung arbeitet. Zwischen beiden entsteht eine perverse Beziehung, in der François viel über Rosa, die Filmkritik und sich selbst lernt.
Mit «Un autre homme», einer Mischung aus Komödie, filmischem Entwicklungsroman und Hommage ans Kino, hat Baier sein bisher zugänglichstes Werk realisiert. Der Film ist ein Sieg der Originalität und Kreativität, obschon er vom Kopieren und Zitieren handelt. Es geht dabei nicht bloss insidermässig um einen Filmkritiker, sondern um ein universelles Thema: Mit viel Witz erzählt Baier, wie ein Mann sich über das Klauen und Kopieren aneignet, was nötig ist, um Zugang zu finden zu einem bestimmten Milieu. Und wie einer entdeckt – und erreicht –, was er begehrt.
Thomas AllenbachAuch wenn die jungen männlichen Hauptfiguren der beiden folgenden Filme nicht ganz so «dumm» sind wie diejenige von Lionel Baiers Erstling von 2004, so könnten doch die Titel von «Comme des voleurs» und «Un autre homme» durchaus auch «Garçon stupide» lauten. Gemeinsam ist den drei Filmen, dass manches in der Grundanlage nicht «stimmt» – und sie trotzdem interessanter sind als das meiste der in den letzten Jahren entstandenen Schweizer Filme mit schulmässig mehr oder weniger korrekt aufgebauten Drehbüchern. Bei «Garçon stupide» war es die Zeichnung der Titelfigur, die aus gutbürgerlichen Verhältnissen kommt und nicht einmal über elementares Allgemeinwissen verfügen soll, in «Un autre homme» nun ist es etwa die Art und Weise, wie im Vallée de Joux angeblich Filmkritik betrieben werden kann.
Christoph EggerUn autre homme revisite avec brio des thèmes qui sont chers à l'auteur : la double vie, l'imposture. C'est une étude sans concessions des mécanismes du désir, qu'il s'agisse de sexe ou de prétention journalistique.
Jean-Luc DouinLionel Baïer, dont le précédent film, nous avait enchantés, revient sur le motif comme un peintre. Imposture et légitimité, identités sexuelles et glissements du désir, amour du cinéma et de l'histoire des arts tout entière, dans laquelle il continue de se frayer un chemin ductile.
Dominique WidemannGalerieo
Ein junger Möchtegern-Grosskritiker erliegt dem Rasiermessercharme einer etablierten Kollegin. Die satirische Fabel des Westschweizer Filmemachers Lionel Baier ist eine amüsante Kritikerschelte.
Stolz berichtet François seiner Freundin, wie er trotz mangelnder journalistischer Erfahrung eine Stelle beim Lokalblatt des abgelegenen Vallée de Joux ergattert hat. Tatsächlich musste der junge Mann selbst erst vom Drucker/Herausgeber überzeugt werden, dass ein Uni-Abgänger wie er seine 8000 Zeichen Text (sprich: Beiwerk zu den Inseraten) werde liefern können. Was François denn auch tut. Zu schaffen macht ihm einzig die wöchentliche Filmkritik. In der Not kupfert er wortwörtlich die Rezensionen einer französischen Filmzeitschrift ab - zum Missfallen der einzigen Kinobetreiberin des Waadtländer Tals, die in den hochgestochenen Elaboraten keinen Werbewert sieht und François die Pressevisionierungen streicht. Doch der hat inzwischen Blut (oder Tinte) geleckt und fährt nach Lausanne, um die Filme trotzdem zu sehen. Dabei lernt er Rosa Rouge kennen, eine etablierte Kritikerin, die sich den Grünschnabel zur Brust und bald auch mit ins Bett nimmt.
Spione, Polizisten und Auftragskillerinnen sind sich gewohnt, ihren Berufsstand auf der Leinwand gespiegelt zu sehen. In seiner satirischen Fabel um intellektuellen Ehrgeiz, Eros und (Medien-)Macht hält der Westschweizer Filmemacher Lionel Baier nun uns Kritikern den (Zerr-)Spiegel vor. Neben Profilierungssucht und Zynismus - François bekommt etwa den kollegialen Rat, jeden zweiten Chabrol zu verreisen, «aus Gründen der Arithmetik» - stattet er die Filmkritiker auch mit einer fast schmeichelhaften Machtfülle aus. Das Publikum wird de facto zur Schafsherde erklärt. «Ich bin wie die Leser», klagt François der Geliebten: «Man muss mir eine Meinung vorsagen.» Natacha Koutchoumov dominiert als Rosa nicht nur den kleinen Hochstapler, sondern den ganzen Film. Ihre Sexszenen gehören zu den originellsten und frechsten, die man seit langem gesehen hat. Manchen Unebenheiten zum Trotz atmet Baiers Etüde inästhetischen Schwarzweissbildern den Geist Truffauts und ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Lausanner Regisseur ein eigenständiges Talent ist.
Der Westschweizer Lionel Baier ist einer der schärfsten Kritiker von Bideaus Filmpolitik.
Mit seiner Filmpolitik stösst Nicolas Bideau in der Branche auf immer stärkeren Widerstand. Wieso?
Er hat immer noch nicht begriffen, dass seine Rolle nicht die des künstlerischen Direktors ist. Sein Job ist es, dafür zu sorgen, dass der Schweizer Film in seiner ganzen Vielfalt überleben kann. Der Herr ist Bundesbeamter, kein Studioboss. Ich habe nichts gegen Bideau als Person. Aber mit seiner Politik gefährdet er die Produktionsvielfalt und die Freiheit der Autoren. Das Klima der Angst, das im Schweizer Film herrscht, ist untragbar.
Was läuft denn falsch in der Filmpolitik?
Herr Bideau bezeichnet sich gern als liberal. Aber was er macht, ist das Gegenteil von liberal. Er versucht, das Schweizer Filmschaffen auf zwei oder drei Produzenten zu bündeln. Das ist wettbewerbsfeindlich, das reinste Kartelldenken. Ein Beispiel: Man legt vielen Regisseuren nahe, ihre Produzenten zu wechseln. Ich kenne Kollegen, denen man klar zu verstehen gegeben hat: Wenn sie Fördergelder wollen, um ihren Film zu drehen, müssten sie sich einen anderen Produzenten suchen. Auch bei mir hat man alles daran gesetzt, um mich dazu zu bringen, den Produzenten zu wechseln. Das ist absolut rechtswidrig.
Für Ihren neuen Film «Un Autre Homme» haben Sie keine Fördergelder vom Bund bekommen. Was waren die Gründe?
Die offizielle Begründung lautete, das Drehbuch sei nicht gut. Aber als ich mich mit Bideau darüber unterhalten habe, sagte er mir: Er glaube, dass ich besser einen anderen Film drehen sollte - nicht diesen kleinen Film, sondern etwas Grosses, mit einem Budget von 3 bis 4 Millionen Euro. Es ist ein Skandal, dass Bideau meint, er müsse uns Filmemachern sagen, was wir für Filme zu drehen hätten. Das gibt es nur in einem totalitären Staat.
Im Jahr 2008 erzielte der Schweizer Film einen Marktanteil von nur 3 Prozent. Gibts eine Krise wegen der Politik von Bideau?
Im Gegensatz zu dem, was Bideau sagt, geht es dem Schweizer Film sehr gut. Die Filmemacher leiden, aber das Kino ist zum Glück stärker als die Politik von Herrn Bideau. Und bleiben wir fair: Es ist nicht seine Schuld, wenn der Schweizer Film nur 3 Prozent Marktanteil erzielt. Genauso wenig war es sein Verdienst, als der Schweizer Film 10 Prozent erzielte. Aber an seiner Stelle würde ich jetzt nicht warten, bis mich jemand zum Rücktritt auffordert. Ich würde freiwillig gehen. Damit das klar ist: Ich fordere nicht seinen Rücktritt. Aber wenn man ihn an seiner eigenen, marktorientierten Logik misst, ist er gescheitert.
Schlechte Zahlen sind kein Grund zur Sorge?
Eine kranke Filmwirtschaft erkennt man daran, dass eine Menge Erstlinge gedreht werden, aber ohne Kontinuität beim Nachwuchs. Diese Gefahr sehe ich bei uns nicht. Was Bideau nicht begreift, ist, dass diese Kontinuität Zeit braucht. Man kann nicht in einem Horizont von einzelnen Jahren denken. Und ich freue mich auf den Tag, da Bideau nicht mehr Filmchef sein wird. Dann wird er endlich in der Lage sein, mir die Wahrheit zu sagen. Denn ich kann nicht glauben, dass er ein Idiot ist.