Cleveland Versus Wall Street
Jean-Stéphane Bron, Schweiz, Frankreich, 2010o
Am 11. Januar 2008 klagt die Stadt Cleveland gegen 21 Banken, die für die verheerenden Auswüchse der Immobilienkrise verantwortlich gemacht werden. Doch Wall Street verhindert die Eröffnung eines Prozesses. Der Film erzählt die Geschichte eines Gerichtsverfahrens, das hätte durchgeführt werden müssen. Ein inszenierter Film-Prozess, dessen die Protagonisten, Beweise und Zeugenaussagen real sind.
Mit «Cleveland contre Wall Street» erfindet der Lausanner Regisseur ein dokumentarisches Genre, das weder Rekonstruktion, noch Doku-Fiktion ist, sondern Hypothese, Parabel, Exorzismus, Utopie… Diese grandiose Fabel vom Widerstand macht die menschliche Seite der Wirtschaftskrise erfahrbar, indem sie uns echte Gesichter und echte Verzweiflung zeigt. Sie kündet schlussendlich von der Stärke der amerikanischen Demokratie. (Auszug)
Antoine DuplanUn vrai procès de cinémadans la tradition de Hollywood, en distillant un vrai suspense et en rendant impitoyables les joutes oratoires entre avocats de la défense et l'accusation, brillants et rusés.
Barbara ThéateNoble ambition que de donner la parole aux victimes, à ceux qui se retrouvent à la rue, tout en évitant intelligemment le piège de la diabolisation à outrance des grands groupes bancaires.
Julien MarsaGalerieo
Jean-Stéphane Bron («Mais im Bundeshuus») inszeniert den Prozess der Stadt Cleveland gegen die Wallstreet. Und zeigt damit, wie es zur amerikanischen Finanzkrise kommen konnte.
Als der Anwalt Joshua Cohen seinen ersten Zeugen befragt, muss er unwillkürlich lächeln. Wenig später ist dieser, ein junger Polizist, den Tränen nahe. Was ist da passiert? Der Anwalt lächelt, weil der Prozess im Gerichtsgebäude von Cleveland in Ohio etwas Surreales hat. Und der Polizist leidet, weil dieser Prozess trotzdem ans Lebendige geht.
Cohen vertritt die Sammelklage der Stadt Cleveland gegen 21 Banken der Wallstreet. Ihm gegenüber sitzt der Anwalt der Banken, vorne der Richter. Entlang der Wand sind die acht Geschworenen platziert, hinten das schweigende Publikum. Alles echt, nichts inszeniert. Und doch nehmen alle an einer Fiktion teil. Der Prozess nämlich, den der welsche Dokumentarfilmer Jean-Stéphane Bron in «Cleveland versus Wall Street» zeigt, hat gar nicht stattgefunden - und wird auch kaum je stattfinden.
Armut und Bürgerprotest
Real aber sind die Ereignisse, die diesem Prozess vorausgingen. Vor drei Jahren wurden in Cleveland 20 000 Familien aus ihren Häusern vertrieben, weil sie trotz Zweit- oder Drittjobs ihre steigenden Hypotheken nicht mehr bezahlen konnten. Die Stadt geriet in eine Abwärtsspirale von Armut, Zerstörung und Gewalt. Menschen schliefen unter Brücken, während ihre früheren Häuser zerfielen. Die Kriminalität explodierte, Drogenbanden terrorisierten die Stadt. Die Afroamerikanerin Barbara Anderson, die ihr Haus verloren hatte, organisierte Bürgerproteste gegen die Banken. Mit ihr beginnt und endet auch Brons Film. Die Stadt klagte schliesslich gegen jene, die über ihre Makler den Hausbesitzern, vornehmlich im armen Quartier Slavic City, überteuerte Kredite, sogenannte Subprimes, verkauft hatten.
Nachdem die Anwälte der Banken den Prozess über ein Jahr lang verschleppt hatten, schlug Jean-Stéphane Bron den Parteien vor, den Prozess mit echten Protagonisten und ohne gestellte Szenen zu inszenieren. Nach und nach konnte er die Leute zum Mitmachen bewegen, darunter auch Peter Wallison, der schon unter Ronald Reagan für deregulierte Finanzmärkte einstand. Oder Keith Fisher, einen erfahrenen Bankenanwalt. «Ich bin der gemietete Schurke, der von aussen kommt», sagt der auf der Fahrt zum ersten Gerichtstag.
Spannung im Gerichtssaal
An diesem ersten Tag hat auch der Polizeibeamte Robert Kole seinen Auftritt. Er musste etwa eine 86-jährige Frau aus ihrem Haus weisen, die ihr ganzes Leben dort gewohnt und eben ihren Mann verloren hatte. Die Erinnerung holt ihn auf dem Zeugenstand wieder ein. Seine Reaktion macht deutlich, wie schnell die Menschen im Film vergessen, dass sie Darsteller sind. Und wie schnell der inszenierte Prozess von den realen Vorgängen eingeholt wird. «Bei den Dreharbeiten ging es sehr ernst zu», sagt Bron; «keiner lachte, und auch die Spannung zwischen den beiden Anwälten war deutlich spürbar.»
Der Regisseur filmte den Prozess mit zwei Kameras entlang der Konfliktachse von Fragern und Befragten. Der Zuschauer sieht den, der gerade spricht, aus der Position dessen, der zuhört. Bron liess sich dabei durch amerikanische Gerichtsfilme inspirieren; mit dem Unterschied, dass die Fakten nicht vorweg erklärt, sondern in der Verhandlung entwickelt werden. Damit untersucht der Prozess auch, wie es in den USA zur Finanzkrise kommen konnte.
Gelegentlich schwenkt die Kamera über die Gesichter der Geschworenen oder des Publikums. Dazwischen lässt der Regisseur die Prozessteilnehmer direkt in die Kamera sprechen, zeigt sie abends zu Hause oder unterwegs im Auto. Sogar bei den Beratungen der Geschworenen ist er mit dabei. Dadurch weiss der Zuschauer immer ein wenig mehr als die Prozessteilnehmer. Der Zuschauer, sagt der Regisseur, «ist der neunte Geschworene».
Bron verwendet die strenge Dramaturgie, die schon bei «Mais im Bundeshuus» überzeugte, seinem Film über die Parlamentsarbeit in Bern. Er selber hält sich stark zurück, meldet sich selber nur in einer kurzen, aus dem Off gesprochenen Einführung zu Wort, in der er die Umstände und Spielregeln des Films erklärt. Anders als sein amerikanischer Kollege Michael Moore, der sich raumfüllend mitinszeniert, bleibt Bron präsent, aber nicht sichtbar.
Dabei verhehlt der Regisseur nicht, dass er Partei ist. Mit seinem Film sei es ihm darum gegangen, «eine demokratische Bresche zu schlagen in die abstrakten Vorgänge, die zu dieser Krise geführt haben». Seiner aggressiven Wortwahl steht die gleichschwebende Aufmerksamkeit gegenüber, die er seinen Gesprächspartnern gegenüber aufbringt. Anwälte und Zeugen kommen stets mit ihren besten Argumenten zu Wort. Selbst Keith Fisher, der Bankenanwalt, beschied dem Regisseur nach der Premiere: «You gave me my best shot.»
Was Bron mit seiner Zurückhaltung erreicht, zeigt der Auftritt von Keith Taylor, einem ehemaligen Drogendealer, der sich zum Makler hochgearbeitet hat. Und der Hunderte von verarmten Bewohnern überzeugte, ihre Schulden mit Ramschkrediten zu bezahlen, und dafür hohe Provisionen kassierte. Der Afroamerikaner ist das Scharnier zwischen den Gewinnern und Verlierern. Statt eines Zynikers bekommt man aber einen wachen Typen präsentiert, der offen über seine Arbeit spricht. Ob die Hausbesitzer nicht mehr haben wollten, als sie zahlen konnten, wird er gefragt: «Tun wir das nicht alle?», gibt er zurück. Die Bewohner, die sich für ein Haus hoch verschulden; die Makler, die an den hoch belasteten Krediten mitverdienen; die Trader und Banken, die nie nachfragen. Alle tun es.
Am Schluss stehen in Cleveland fast 100 000 Menschen auf der Strasse, und die Banken haben Millionen verdient. In «Capitalism: A Love Story» hat sich auch Michael Moore mit der amerikanischen Immobilien- und Bankenkrise beschäftigt. Sein Film ist als Dauerklage angelegt. Bron überlässt den Entscheid dem Publikum. Michael Moore zeigt, wie böse der Kapitalismus ist; Jean-Stéphane Bron zeigt, wie er funktioniert.