L'invitation
Claude Goretta, Schweiz, Frankreich, 1973o
Nach dem Tod seiner Mutter erbt ein Versicherungsangestellter mittleren Alters ihr kleines Häuschen. Er verkauft es samt umliegenden Gelände, wird so zum reichen Mann und kauft sich seinerseits einen grösseren Landsitz. Stolz organisiert er dort eine Gartenparty und lädt alle seine Kollegen aus dem Büro ein. Alkoholisiert verlieren diese jedoch allmählich all ihre Hemmungen und offenbaren ihre innersten Frustrationen.
«L’invitation» ist von der Regie her und schauspielerisch eine grossartige Leistung, in der die Begabung des unübertrefflichen Jean-Luc Bideau voll zur Geltung kommt. Ein unbarmherziges und ironisches Porträt einer kleinkarierten Schweiz mit ihrem Heer von Angestellten, deren Alltag vom ohrenbetäubenden Schreibmaschinengeklapper in der stickigen Atmosphäre des Grossbüros bestimmt ist, in dem der schleimige Chef das Sagen hat. Doch kaum schafft einer von ihnen – der anständige und freundliche Monsieur Rémy - dank einer Erbschaft den gesellschaftlichen Aufstieg, läuft alles aus dem Ruder. Im idyllischen Park der neu erstandenen Villa des alten Junggesellen ist bald die Hölle los, herrschen Anarchie, Neid und Aufruhr. So wird die «Einladung» unerwartet zur Falle für all jene, die noch an das friedliche und rechtschaffene Helvetien glauben. (Auszug)
Antonio MariottiDie Belegschaft eines Büros trifft sich im neuerworbenen Landhaus eines Kollegen zu einer sommerlichen Party, in deren Verlauf die Alltagsfassade der Gäste abbröckelt. Das Fest scheitert kläglich ob der ungewohnten Freiheit. Claude Goretta gelingt mit diesem tragikomischen Gesellschaftsspiel die Entlarvung von Verhaltensweisen auf eine subtile, nie verletzende Art und fern jeder doktrinären oder schulmeisterlich-moralischen Haltung.
RedaktionC'est une petite merveille. Un vrai règlement de comptes, style Festen de Thomas Vintenberg, mais à la mode suisse : plus feutrée, plus cynique, plus cruelle...
Pierre MuratGalerieo
Der Schweizer Regisseur Claude Goretta machte Isabelle Huppert bekannt. Nun ist er mit 89 gestorben.
Menschen eine Stimme geben, die sich nicht mit Worten zu verteidigen wissen, das trieb den Genfer Regisseur Claude Goretta an. «Meine Filme handeln fast immer von kleinen Leuten, die sich schwer tun damit, ihre Gefühle auszudrücken», sagte Goretta vor einigen Jahren in einem Interview mit dem «Cinébulletin». Auch seine Eltern seien bescheidene, wortkarge Leute gewesen.
La Dentellière (1977) ist so ein Beispiel. In dem Film spielt die französische Schauspielerin Isabelle Huppert die Rolle der Pomme, einer angehenden Coiffeuse, deren aufkeimende Liebe zu einem Philosophiestudenten zerbricht, weil dieser ihre wahre Persönlichkeit nicht erkennen will.
Der Film wurde zu Gorettas grösstem Publikumserfolg und für Huppert zum Startschuss in eine bedeutende Karriere. Die Französin gewann für ihre Rolle mehrere Preise, der Film selber wurde unter anderem in Cannes ausgezeichnet. Einen Erfolg gefeiert hatte der schon früh in Frankreich bekannte Genfer schon einige Jahre zuvor mit L'Invitation (1972), der den renommierten Jury-Preis am Filmfestival in Cannes gewann.
Bevor Goretta sich ins Filmgeschäft stürzte, hatte er Rechtswissenschaften an der Universität Genf studiert. Noch waren Filme Raritäten. Die auf Goretta aber verlockend wirkten: Gemeinsam mit seinem späteren Regie-Kollegen Alain Tanner gründete er einen Filmclub.
Während eines Aufenthalts am British Film Institute in London drehten die beiden 1957 den schwarz-weissen Kurzfilm Nice Time über das nächtliche Treiben am Piccadilly Circus. Der Streifen brachte den beiden Jungfilmern viel Kritikerlob und einen Preis des Filmfestivals in Venedig ein.
Nach seiner Rückkehr in die Schweiz 1958 avancierte Goretta zum gefragten TV-Regisseur. Beim Fernsehen lernte er nach eigenen Aussagen sein Handwerk: Für Télévision Suisse Romande drehte er ab Ende der 1950er Jahre Dokumentationen, Reportagen und Spielfilme und wagte sich an Theater-Adaptionen von Klassikern.
Über 50 Filme gedreht
Ein gutes Händchen hatte Goretta auch im Bezug auf seine Darsteller. Der Filmemacher setzte auf noch unbekannte Schauspieler, die später zur ersten Garde von Charakterdarstellern zählten: Isabelle Huppert, der erst vergangene Woche verstorbene Schweizer Schauspieler Bruno Ganz, Gérard Depardieu oder Nathalie Baye. Seinen letzten Film drehte Goretta 2006: die zweiteilige Fernsehproduktion Sartre, l'âge des passions über Jean-Paul Sartre, eine Mischung aus Fiktion und Dokumentarfilm.
Claude Gorettas Filmografie umfasst über 50 Kino-, Fernseh-, Dokumentar- oder Kurzfilme. Für sein Lebenswerk wurde der Filmemacher 2010 mit dem Ehren-Quartz des Schweizer Filmpreises sowie 2011 mit einem Leoparden am Festival del film in Locarno ausgezeichnet.
Am Mittwochnachmittag ist Claude Goretta er im Alter von 89 friedlich eingeschlafen, wie seine Familie mitteilte.