Die Reise nach Tokio
Yasujirō Ozu, Japan, 1953o
Als Shukichi und Tomi nach langer Reise in Tokio ankommen, merken sie schnell, dass ihre beiden ältesten Kinder Koichi und Shige wenig Zeit für sie haben. Koichi ist Arzt, Shige führt einen Schönheitssalon. Echte Aufmerksamkeit bekommen die Eltern nur von der im Krieg verwitweten Schwiegertochter, dann werden sie in ein Seebad verfrachtet, wo es ihnen noch weniger gefällt. Als sie wieder abreisen, erkrankt der Vater.
Der berühmteste Film des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu (1903–1963) verdankt seinen Ruf wohl der Ballung klassischer Ozu-Themen und -qualitäten, die hier in der universellen Geschichte von der Enttäuschung eines Elternpaars über seine erwachsenen Kinder und die Brüchigkeit des Ganarationenvertrags zusammenkommen. Wie fast immer bei Ozu sieht man einer Nullhandlung zu (dem Besuch der alten Eltern bei ihren Kinder in Tokyo), wie stehts reihen sich scheinbar blosse Alltäglichkeiten, bestenfalls anekdotische Ereignisse und Gespräche voller Floskeln. Entscheidend aber ist das Ungesagte hinter den Worten, die unterschwellige Grausamkeit im steten Strom der Höflichkeiten: Die Eltern sind dem älteren Sohn und Tochter vor allem lästig, die Kinder haben genug am Hals mit ihren eigenen Ambitionen. Und die im Krieg verwitwete Schwiegertochter? Sie, die Angeheiratete, absolviert den Parcours zwar taktvoll, ist mit ihrem ungelebten Leben in der stramm konventionell voranschreitenden japanischen Nachkriegs-Gesellschaft aber die noch tragischere Figur als die Eltern. Sagt man einander dies alles? – Höchstens zwischen den Zeilen. Gibt man sich Rechenschaft über sich selbst? – Selbstredend nicht: Die Verdrängung hat System. Sie ist das eigentliche Drama.
Andreas Furler