Tscharniblues II
Aron Nick, Schweiz, 2019o
1979, Hochhaussiedlung Tscharnergut: Eine Gruppe Männer um die zwanzig drehten den wilden und idealistischen Super8-Film Dr Tscharniblues – ein ungeschminktes Selbstporträt, quasi ein Ur-Selfie ihrer Generation. Fast vierzig Jahre später versammelt der Regisseur die Freunde wieder im Tscharnergut und geht der Frage nach, was aus ihnen und ihren Idealen geworden ist. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweben sich zu einer Reise mit persönlichen Abgründen, Hoffnungen und der Suche nach Identität.
Was ist aus den Träumen von damals geworden? Und was hat das Leben mit den Tscharni-Giele gemacht? Diese Fragen stellt der Berner Regisseur Aron Nick den Protagonisten von damals. Sein Dokumentarfilm ist das intime Vorher-Nachher-Bild einer Generation -- und vor allem: eine Hymne an die Freundschaft.
Regula FuchsTscharniblues II ist ein leises Fest des Abschieds, der Trauer, des Rückblicks. Aber eben nicht nur. Der Film ist gleichzeitig eine Feier der Freundschaft. Vor allem aber umkreist er eine vage Idee der Freunde, die sich dabei immer mehr verfestigt: Die Forderung nach einem „Recht zum Scheitern“, die in punkigeren Zeiten noch trotzig wirkte, wird, verknüpft mit der Rückschau und der Frage danach, woran Scheitern zu messen wäre, wieder zum Ausdruck eines hochaktuellen Lebensgefühls.
Michael SennhauserGalerieo
Tag 1: «Tscharniblues II» eröffnet die 54. Solothurner Filmtage.
Ende der 50er-Jahre wurde in Bern-Bethlehem das grösste Wohnbauprojekt der Schweiz in Angriff genommen: die Hochhaussiedlung Tscharnergut, genannt «Tscharni». Es muss gewesen sein, als sei die Moderne aus dem Boden geschossen und habe eine rechteckige Form angenommen. Regisseur Aron Nick nennt die Siedlung in seinem Dokumentarfilm «Tscharniblues II» ein «Versprechen»: drei Zimmer, Balkon, Fernseher und für jeden einen Parkplatz.
Der Film eröffnete die Solothurner Filmtage, und das passt: Hier lief 1980 «Dr Tscharniblues». Es war eine freie Träumerei in Super-8, gedreht von Nicks Vater Bernhard, seinem Onkel Bruno, dem Götti Ribi und den Freunden – dem Eggi, dem Yves und dem Stüfi, aus dem später dann der bekannte Schauspieler Stefan Kurt wurde. Sie rannten geschminkt über die Wiese, es war die Zeit von «Züri brännt» und «Reisender Krieger», und die Schweiz war ein enges Land, in dem man an vielen Orten den Rasen nicht betreten durfte.
Waren die Eltern wilder?
Was ist aus den Träumen geworden? Der Sohn versammelt die Freunde von damals noch einmal im Tscharnergut. Onkel Bruno fehlt; der Künstler, der damals scharfsichtige Gesellschaftsanalysen betrieb, ist 2014 gestorben. Der Ribi und der Yves arbeiten als Schulleiter und Französischlehrer. Christoph Eggimann, dem Eggi, merkt man das grosse Herz an, aber auch die Einsamkeit.
In seinem Erstling stellt der 1984 geborene Aron Nick die Frage, ob seine Elterngeneration nicht eigentlich wilder und idealistischer gelebt hat, weniger getrieben von Perfektionswahn und Selbstoptimierung. Ein Teil der Antwort lautet, dass es zu der Zeit, als die Männer ihre Quatschvideos drehten, einen feindlichen Block gab: die illiberale Gesellschaft. Eine andere Erklärung ist, dass der kreative Ausbruch auch ein Nährboden war für die Zeit der Instagram-Filter.
Aber das sind so die grossen Linien, und unter den Freunden spielt sich vieles im Kleinen ab. Denn das haben sie sich damals wohl nie erträumt: dass einer ihrer Söhne sie einmal dabei filmen würde, wie sie im höheren mittleren Alter verknorzte Männerdiskussionen übers Scheitern führen. Gespräche über Verbürgerlichung und Resignation und die Beharrlichkeit der Ideale, denen man ja irgendwie noch immer anhänge. Und über die Frage, wie gross der Anteil der eigenen Verantwortung beim Misserfolg wohl sein muss. Furchtbar erwachsene Fragen halt.
«Tscharniblues II» ist indirekt – und zwischendurch auch ungewollt – ein Porträt der jungen Generation, die gar nicht mehr zu reflektieren scheint, wieso sie ständig nach dem Erfolg fragt, den jemand hat oder eben nicht. Aron Nick behält aber vor allem den Blick für die unaufhaltsame Tragikomödie des Lebens, die sich nicht nur im Tscharnergut abspielt. Es wird viel gelacht und geweint; man lacht und weint mit, manchmal reicht ein Lied von Mani Matter.
Und vielleicht ist es mit den Idealen so wie mit der Betoneisenbahn in der Siedlung, die seit jeher auf dem Spielplatz steht. Dieser wurde zwar erneuert, aber die Eisenbahn ist noch immer da, denkmalgeschützt. Wie ein Versprechen auf freies Spiel. Aber für immer bewahrt.