Gambit

Sabine Gisiger, Schweiz, Deutschland, 2005o

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Der investigative Dokumentarfilm rollt die Hintergründe der Dioxinkatastrophe von 1976 auf, als es in der Icmesa im italienischen Seveso zu einer Explosion kam. Der Fall war auch brisant für die Schweiz, da die Icmesa eine Tochter der Genfer Givaudan war, die wiederrum zum Basler Chemiekonzern Hoffmann La Roche gehört. Als file rouge führt ein Interview mit Jörg Sambeth durch den Film: Als technischer Direktor der Givaudan wurde er als Hauptverantwortlich angklagt. Der Film deckt jedoch mehrere Ursachen und Hintergründe auf und bald wird klar, dass Sambeth nicht mehr als ein Bauernopfer ist.


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Tages-Anzeiger, 27.09.2005
Psychogramm des Managertums

Die Regisseurin Sabine Gisiger rollt in «Gambit» die Chemie-Katastrophe von Seveso auf

Von Christoph Schneider

Es wächst jetzt wieder Gras, wo das Gift lag, aber über die Erinnerung an die Katastrophe ist kein Gras gewachsen: Am 10. Juli 1976 entwich in der Ortschaft Seveso, nahe bei Mailand, aus einem überhitzten Reaktor der Fabrik Icmesa, einer kleinen Firma des Chemiekonzerns Hoffmann-La Roche, das hochgiftige 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin, das in seiner toxischen Wirkung sowohl die Blausäure als auch einige bekannte Nervengase übertrifft. Obwohl in der näheren Umgebung bald Kleingetier und Vögel verendeten und Kinder erkrankten, wurde die Arbeit in der Firma vorerst nicht eingestellt; noch nach der zweifelsfreien Analyse der Bodenproben verbot die Konzernspitze der Hoffmann-La Roche ihren Kaderleuten vor Ort die Erwähnung von Dioxin. Als dann nichts mehr zu verheimlichen war, diagnostizierten die behandelnden Ärzte bei rund 200 Menschen eine Chlorakne als Folge der Vergiftung. Die Evakuierung der kontaminierten Zonen war unvermeidlich.

Sabine Gisigers Dokumentarfilm «Gambit» erzählt vom «Komplex Seveso»: nämlich von der Katastrophe und von den Konsequenzen im Lauf der menschlichen Tragödien und tragischen Farcen der Schadensbegrenzung. Der Film ist den Opfern von Seveso gewidmet und handelt von Tätern. Im Zentrum steht Jörg Sambeth, seinerzeit Technischer Direktor der Genfer Roche-Firma Givaudan und deshalb auch zuständig für die Givaudan-Tochter Icmesa. Ihn hat Hoffmann-La Roche im Seveso-Prozess 1983 beträchtlich im Regen stehen lassen - gewissermassen als Figurenopfer im Schachspiel ums Renommee eines Konzerns und seiner Chefs.

In «Gambit» redet Sambeth (der letztes Jahr im Zürcher Unionsverlag einen Tatsachenroman über Seveso und die Folgen veröffentlicht hat) als Kronzeuge gegen den ehemaligen Arbeitgeber und manchmal auch gegen sich selbst und den eigenen Kadavergehorsam. Es mischt sich, unvermeidlich, der Realismus eines Berichts aus erster Hand mit dem Melodrama von Reue und Selbstmitleid.

Der Film wagt Distanzlosigkeit zu den Widersprüchen. Das ist hochdramatisch, wo er uns sozusagen ins Innere des Wals führt und mit Hilfe des Protagonisten zu einem Psychogramm des Managertums. Es ist bedenklich nur dort, wo eine sonst doch klug kontrollierte Parteilichkeit ans Sentimentale streift und wo Erinnerungen an eine Wirklichkeit unter Opernklängen ins Pathos überführt werden.

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18.09.2006
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Tages-Anzeiger, 27.09.2005
«Erschütternd: Seveso war kein Thema»

Sabine Gisiger über Strukturen der Macht und die Gesprächs-verweigerung von ehemaligen Roche-Verantwortlichen

Von Rita Flubacher

Sabine Gisiger, nach einer kurzen Einführung in den Fall Seveso blenden Sie unvermittelt in die Nazi-Vergangenheit der Eltern von Jörg Sambeth zurück. Das irritiert.

Ich glaube, dass man die Geschichte von Jörg Sambeth nur so richtig versteht. Der junge deutsche Chemiker will ein richtiges Leben in einem guten Land führen. Deshalb flieht er vor den Schatten des Nationalsozialismus. In der deutschen Chemie besetzen immer noch alte Nazis Schlüsselpositionen. Die Schweiz verkörpert für ihn die Demokratie. Er ist daher extrem erstaunt, als er realisiert, dass es bei Roche steile Hierarchien gibt, eine Art Führer und ein Management, das ihm bedingungslos folgt.

Ein gewagter Vergleich.

Halt, ich setze in keiner Weise einen Schweizer Konzern in den Siebzigerjahren mit dem Nazi-Reich gleich. Aber es gibt im Film ein Beispiel für den vorauseilenden Gehorsam. Man orientierte den in Brasilien weilenden Roche-Chef nach der Explosion in Seveso nicht. Die Manager hatten Angst, ihn eventuell für nichts zurückzuholen und sich seinen Zorn zuzuziehen.

Jörg Sambeth schreibt in seinem Buch nichts über die Nazi-Vergangenheit.

«Gambit» ist eben mein Blick auf seine Geschichte. Er akzeptierte das von Anfang an. Mir geht es darum, unheilvolle Strukturen aufzuzeigen. In jeder Diktatur gibt es das Phänomen der schleichenden Anpassung an Unrecht. Die Demokratie allein ist aber keine Garantie gegen dieses Phänomen. Ich will Machtstrukturen aufzeigen, die verheerende Auswirkungen haben können, der Film stellt die Frage der Eigenverantwortung.

Die Eltern von Jörg Sambeth schwiegen nach dem Krieg über den Nationalsozialismus. Auch nach der Seveso-Katastrophe wird in der Familie Sambeth geschwiegen.

Als Jörg Sambeth erstmals die Bilder der Leichen in den Konzentrationslagern sah, war er schockiert. Er wollte mit seinen Eltern darüber sprechen, doch diese schwiegen. Die Mutter schämte sich, und der Vater, der Mitglied der nationalsozialistischen Partei gewesen war, fühlte sich ungerecht behandelt. Jörg Sambeths Tochter erzählte Jahre später in den Tagen von Seveso genau das Gleiche. Das sind Tabus in der Familie, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Doch jetzt ist das Tabu gebrochen, nachdem Sambeth beschlossen hatte, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Und damit auch den Folgen, die diese Geschichte für seine Frau und seine Kinder hatte.

Im Film wird nicht erklärt, dass Roche das Gespräch mit Ihnen verweigerte.

Ich wollte eine Geschichte über einen Konzern erzählen und hinter die Kulissen blicken. Mir ging es 30 Jahre nach der Seveso-Katastrophe nicht darum, der damaligen Führung von Roche den Prozess zu machen. Ich habe mehrmals versucht, mit den damaligen Verantwortlichen Kontakt aufzunehmen. Ich wollte unbedingt mit ihnen reden. Ich hätte sie auch sehr gerne im Film gehabt. Leider war das nicht möglich.

Mit welchen Begründungen hat man Ihnen das Gespräch verweigert?

Einer schrieb, er sei in Übersee. Ich antwortete ihm, er solle sich doch nach seiner Rückkehr melden. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört. Ein anderer schrieb mir, nach bald 30 Jahren interessiere die Seveso-Geschichte niemanden mehr.

Haben Sie versucht, mit den Roche-Familienaktionären Kontakt aufzunehmen?

Nein, die heutige Generation hat mit der Geschichte nichts zu tun. Ich habe jedoch das Paul-Sacher-Archiv konsultiert. Sacher war damals Hauptaktionär und Präsident des Verwaltungsrates. Ich habe alle Briefe durchgesehen, die er zwischen Juli 1976 und 1980 geschrieben oder erhalten hat. Es ist erschütternd: Seveso war kein Thema. In einem einzigen Brief empörte sich der damalige Basler SP-Nationalrat Andreas Gerwig über die schnoddrige Art, wie Roche-Präsident Adolf Jann über die Opfer von Seveso sprach.

Und wie reagierte Paul Sacher?

Er lud Gerwig und seine Frau zum Nachtessen ein, um über diese Angelegenheit zu sprechen.

Gerwig war damit der Einzige, der sich zu Seveso bei Sacher äusserte?

Aus heutiger Sicht ist das unglaublich. Niemand schrieb Sacher, was eigentlich los sei und was Roche zu tun gedenke. Und Sacher schrieb nirgends, dass ihn Seveso betroffen mache.

Sie nennen die Verantwortlichen von Roche nie mit Namen. Dadurch bleiben die Handelnden im Film seltsam blass.

Ich habe diese Gestaltungsform bewusst gewählt. Ich wollte keinen polemischen Film gegen Roche und die damaligen Akteure machen. Einfache Wahrheiten finde ich uninteressant, weil sie nie wahr sind. Mir war es wichtig, dass der Film über Seveso hinaus weist, zur Frage anregt, wie heute mit Katastrophen umgegangen wird, wie Entscheidungsstrukturen in Konzernen heute aussehen.

Im Film wird auch der brisante Verdacht erwähnt, dass das Dioxin in Seveso absichtlich für militärische Zwecke hergestellt worden sei. Die Frage, ob dem tatsächlich so gewesen sei, wird aber nicht beantwortet.

Weil ich diese Frage nicht beantworten kann. Das hat mit Wahrhaftigkeit zu tun. Wahr ist, und das stelle ich im Film dar, dass der deutsche Journalist Ekkehard Sieker 1993 entsprechende Recherchen gemacht hatte. Es gab starke Indizien, dass irgendetwas faul war. Sieker konnte den Beweis aber nicht erbringen.

Also hätte man diesen Aspekt weglassen können.

Es war eben trotz allem interessant, wie Roche den Journalisten 1993 mit einem Fax abspeiste, auf dem offensichtlich ganze Textpassagen wegretouchiert worden waren. Der Konzern machte sich nicht einmal die Mühe, das zu kaschieren. Jörg Sambeth selbst glaubt nicht an die Waffengeschichte, weil er die Leute kannte, die das hätten organisieren müssen. Er gibt Sieker aber insofern Recht, als der Reaktor tatsächlich und unnötigerweise so konstruiert war, dass man darin Dioxin für Chemiewaffen hätte produzieren können.

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Archivmaterial zum Seveso-Fall
/ Dschoint Ventschr
de it / 31.08.2005 / 4‘17‘‘

Ungeschnittene Archivsequenz
/ Dschoint Ventschr
de it / 31.08.2005 / 13‘48‘‘

Filmdateno

Genre
Dokumentarfilm, Historisch
Länge
107 Min.
Originalsprachen
Deutsch, Italienisch
Bewertungen
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ØIhre Bewertung7.9/10
IMDB-User:
7.9 (50)
Cinefile-User:
< 10 Stimmen
KritikerInnen:
< 3 Stimmen

Cast & Crewo

Sabine Gisiger
Reinhard Köcher
Helena VagnièresKamera
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Bonuso

iGefilmt
Archivmaterial zum Seveso-Fall
Dschoint Ventschr, de it, 4‘17‘‘
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Ungeschnittene Archivsequenz
Dschoint Ventschr, de it, 13‘48‘‘
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gGeschrieben
Besprechung Tages-Anzeiger
Christoph Schneider
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Sascha Keilholz
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Tages-Anzeiger / Rita Flubacher
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